Geßele, Carolin Christiane (2025): Arzneimittel bei stationärer Aufnahme als prädiktiver Risikofaktor für postoperatives Delir. Dissertation, LMU München: Medizinische Fakultät |
Vorschau |
PDF
Gessele_Carolin_Christiane.pdf 4MB |
Abstract
Das postoperative Delir ist die häufigste Komplikation nach chirurgischen Eingriffen bei älteren Patienten und mit negativen Folgen wie einer verminderten funktionellen und kognitiven Leistungsfähigkeit sowie einer erhöhten Mortalität und Morbidität assoziiert. Aufgrund des demographischen Wandels und einer alternden Gesellschaft wird es auch in Zukunft notwendig sein, die begrenzten Ressourcen im Gesundheitssystem zu bündeln und alltagstaugliche Strategien zur Reduktion postoperativer Komplikationen bei älteren Patienten zu etablieren. Für die rechtzeitige Einleitung präventiver Maßnahmen ist die frühzeitige Identifizierung von Risikopatienten bei der stationären Aufnahme erforderlich, die durch die Anwendung von Risikoscores ermöglicht wird. Das Auftreten eines postoperativen Delirs wird durch zahlreiche prädisponierende und auslösende Risikofaktoren, darunter auch Arzneimittel, beeinflusst. Zu den prädisponierenden Risikofaktoren zählen Deliririsko-erhöhende und anticholinerge Arzneimittel in der Aufnahmemedikation. Vor diesem Hintergrund beleuchtet die vorliegende Doktorarbeit die Identifikation von Risikopatienten für ein postoperatives Delir zum Zeitpunkt der Arzneimittelanamnese anhand eines neu entwickelten prädiktiven Risikoscores und vergleicht darüber hinaus verschiedene Scores zur Erfassung der anticholinergen Belastung. In Veröffentlichung I wurde ein prädiktiver Risikoscore für postoperatives Delir zur Anwendung in der pharmazeutischen Arzneimittelanamnese entwickelt, der die Aufnahmemedikation und weiteren verfügbaren Risikofaktoren berücksichtigt. Der Risikoscore mit delirium risk-increasing drugs (DRD-Score) enthält die vier Risikofaktoren Alter (> 65 Jahre, 2 Punkte; > 75 Jahre, 3 Punkte), eingeschränkte Nierenfunktion (< 60 ml/min/1,73 m2, 1 Punkt), hohe anticholinerge Belastung (German Anticholinergic Burden [GerACB]-Score ≥ 3, 1 Punkt) und Einnahme von Deliririsko-erhöhenden Arzneimitteln (n ≥ 2, 2 Punkte). Patienten ab ≥ 4 Punkten wurden als Risikopatient klassifiziert. Die potenziellen Risikofaktoren männliches Geschlecht, Rauchen und erhöhter Alkoholkonsum [45] waren nicht signifikant mit dem Auftreten eines postoperativen Delirs assoziiert und wurden daher nicht in den Score aufgenommen. Insbesondere für Apotheker bietet der Score einen pragmatischen Ansatz zur schnellen Risikoeinschätzung von Patienten bei der stationären Aufnahme basierend auf den verfügbaren Medikations- und Labordaten. Der Score erzielte eine gute bis moderate Sensitivität (Entwicklungskohorte [EntK] 83 %, Validierungskohorte [ValK] 63 %) und eine gute Spezifität (EntK 80 %, ValK 77 %). Etwa ein Drittel aller identifizierten Risikopatienten entwickelte ein postoperatives Delir (positive predictive value [PPV] EntK 38 %, ValK 31 %), während Nichtrisikopatienten mit hoher Wahrscheinlichkeit kein postoperatives Delir entwickelten (negative predictive value [NPV] EntK 97 %, ValK 93 %). Die erforderlichen Risikofaktoren sind zum Zeitpunkt der Arzneimittelanamnese routinemäßig verfügbar und ein geschulter Apotheker kann die medikationsbezogenen Faktoren unkompliziert einschätzen. Bei der Erhebung des ACB-Scores können zudem Online-Rechner unterstützen [46]. Das Ziel des Screenings ist es, Patienten mit einem erhöhten Bedarf an pharmazeutischen Interventionen zu identifizieren. Als Konsequenz kann in der Arzneimittelanamnese ein verstärkter Fokus auf Interventionen bei identifizierten Risikopatienten liegen. Ein möglicher pharmazeutischer Beitrag sind Austauschempfehlungen bei zentral wirksamen anticholinergen Wirkstoffen, eine alters- und nierenfunktionsadaptierte Dosisprüfung sowie eine Überprüfung auf potenziell inadäquate Medikation im Alter. Darüber hinaus ist es sinnvoll, durch die Risikokommunikation mit Ärzten und Pflegenden allgemeine nicht-pharmakologische Präventionsmaßnahmen einzuleiten. Eine Limitation des DRD-Scores ist, dass wichtige prädiktive Risikofaktoren wie Grunderkrankungen sowie funktionelle und kognitive Beeinträchtigungen nicht berücksichtigt werden. Dies lässt sich mit dem Anwendungsziel in der pharmazeutischen Arzneimittelanamnese und dem Fokus auf der Identifikation von Patienten mit pharmazeutischem Interventionsbedarf begründen. Da der DRD-Score in einem orthopädischen und unfallchirurgischen Patientenkollektiv entwickelt und intern validiert wurde, ist eine externe Validierung in einer anderen Patientenpopulation erforderlich, um die Prädiktionsgenauigkeit umfassender bewerten zu können. Veröffentlichung II befasste sich mit der anticholinergen Belastung der Aufnahmemedikation als prädiktivem Risikofaktor für postoperatives Delir und ging der Frage nach, ob die Dosierung der Arzneimittel hierbei berücksichtigt werden sollte. Zu diesem Zweck wurden drei anticholinergic burden (ACB)-Scores miteinander vergleichen: der GerACB (potenzbezogen), die extended Muscarinic Acetylcholinergic Receptor ANTagonist Exposure (extMARANTE)-Skala (potenz- und dosisbezogen) und der German Drug Burden Index (GerDBI) (dosisbezogen). Insgesamt zeigte sich eine substanzielle Übereinstimmung in der Bewertung der Aufnahmemedikation durch die Scores (Interrater Reliabilität für Patienten mit und ohne postoperativem Delir κ = 0,645 und κ = 0,632). Für alle drei Scores war eine hohe Belastung signifikant mit dem Auftreten eines postoperativen Delirs in einer multivariablen Analyse assoziiert (adjustiert für Alter, Anzahl Arzneimittel in der Aufnahmemedikation, Demenz und American Society of Anesthesiologists Status). Bei der Verwendung als Screeninginstrument erzielten die Scores eine niedrige Sensitivität (GerACB 24 %, extMARANTE 42 %, GerDBI 41 %), eine hohe Spezifität (GerACB 94 %, extMARANTE 85 %, GerDBI 88 %), einen niedrigen PPV (GerACB 49 %, extMARANTE 39 %, GerDBI 43 %) und einen hohen NPV (GerACB 85 %, extMARANTE 87 %, GerDBI 87 %). Die drei ACB-Scores sind aufgrund ihrer niedrigen Sensitivität und ihres geringen PPV als alleinige Screeninginstrumente für postoperatives Delir nicht geeignet, obwohl eine hohe Belastung signifikant mit postoperativem Delir assoziiert war. Dies unterstreicht die Notwendigkeit, die anticholinerge Belastung in Kombination mit weiteren Risikofaktoren für das postoperative Delir zu bewerten, wie beispielsweise durch den DRD-Score. Die zusätzliche Berücksichtigung der Dosis geht mit einer aufwändigeren Scoreberechnung einher, während sich die Bewertung der anticholinergen Belastung dadurch nur geringfügig ändert. Der einfache GerACB erzielte zwar die geringste Sensitivität, aber auch die höchste Spezifität und den höchsten PPV. Für eine einfache und pragmatische Überprüfung der anticholinergen Belastung der Aufnahmemedikation bleibt der GerACB somit ausreichend. Bei Patienten > 65 Jahre mit hoher anticholinerger Belastung sollten potenzielle Austauschmöglichkeiten, insbesondere von zentral wirksamen anticholinergen Wirkstoffen, evaluiert werden. Auch wenn in dieser Studie eine Dosisberücksichtigung bei Berechnung der anticholinergen Belastung als nicht notwendig bewertet wurde, sollte bei der Medikationsanalyse eine alters- und nierenfunktionsadaptierte Dosis überprüft werden. Zusammenfassend wurden in dieser Doktorarbeit Möglichkeiten zur Identifizierung von Risikopatienten für postoperatives Delir bei stationärer Aufnahme anhand ihrer Medikation evaluiert. Delirrisiko-erhöhende und anticholinerge Arzneimittel in der Aufnahmemedikation sind für Patienten > 65 Jahre, insbesondere mit einer eingeschränkten Nierenfunktion, prädiktive und potenziell modifizierbare Risikofaktoren für postoperatives Delir. Die Berücksichtigung der Dosis anticholinerger Arzneimittel durch dosisbezogene ACB-Scores ist nicht erforderlich, die Verwendung eines einfachen potenzbasierten ACB-Scores ist ausreichend. Arzneimittel als prädiktive Risikofaktoren und die Anwendung des DRD-Scores und der ACB-Scores müssen im Kontext des multifaktoriellen Geschehens beim postoperativen Delir mit weiteren prädiktiven und auslösenden Risikofaktoren betrachtet werden. Damit ist eine moderate Sensitivität der Scores akzeptabel und mögliche pharmazeutische sowie nicht-pharmakologische Präventionsmaßnahmen sollten für Risikopatienten abgeleitet und umgesetzt werden. Sowohl der DRD- als auch die ACB-Scores erreichten eine hohe Spezifität, so dass bei Fehlen der medikationsbezogenen Risikofaktoren ein postoperatives Delir nur selten auftrat und pharmazeutischer Interventionsbedarf bei der Aufnahmemedikation nicht häufig erforderlich sein sollte. Als Ausblick zu dieser Arbeit sollte untersucht werden, ob Risikopatienten laut des DRD-Scores einen erhöhten Interventionsbedarf in ihrer Medikation aufweisen, welche pharmazeutischen Interventionen erforderlich sind und ob es möglich und sinnvoll ist, diese Interventionen im präoperativen Setting umzusetzen.
Abstract
Postoperative delirium is the most common complication following surgical procedures in older adult patients and is associated with adverse outcomes such as functional and cognitive decline and increased mortality and morbidity. With demographic changes and an aging society, there is a need to develop practical strategies that take limited healthcare resources into account to reduce postoperative complications in older patients. Early identification of patients at risk upon hospital admission is necessary for timely initiation of preventive measures, which is made possible by the use of risk scores. The development of postoperative delirium is influenced by numerous predisposing and precipitating factors, including drugs. Delirium risk-increasing and anticholinergic drugs in the admission medication are examples of predisposing risk factors. Following this, this dissertation investigates the identification of patients at risk for postoperative delirium at the time of medication reconciliation using a newly developed predictive risk score and compares different scores for assessing anticholinergic burden. In publication I, a predictive risk score for postoperative delirium was developed for use during pharmacist-led medication reconciliation based on admission medication and other available risk factors. The risk score including delirium risk-increasing drugs (DRD score) considers four risk factors: age (> 65 years, 2 points; > 75 years, 3 points), reduced kidney function (< 60 ml/min/1.73 m2, 1 point), high anticholinergic burden (German Anticholinergic Burden [GerACB] score ≥ 3, 1 point), and use of delirium risk-increasing drugs (≥ 2, 2 points). Patients with a score ≥ 4 points were classified as risk patients. The potential risk factors male gender, smoking, and heavy alcohol consumption [45] were not significantly associated with postoperative delirium and were therefore not included in the final score. For pharmacists in particular, the DRD score provides a pragmatic approach for rapid risk assessment of patients upon hospital admission, based on available medication and laboratory data. The score achieved good to moderate sensitivity (development cohort [DevC] 83%, validation cohort [ValC] 63%) and good specificity (DevC 80%, ValC 77%). Approximately one-third of identified risk patients developed postoperative delirium (positive predictive value [PPV] DevC 38%, ValC 31%), whereas non-risk patients were unlikely to develop postoperative delirium (negative predictive value [NPV] DevC 97%, ValC 93%). The required risk factors are routinely available during medication reconciliation and a trained pharmacist can easily evaluate medication-related factors. Online calculators may also assist in calculating the ACB score [46]. The aim of the screening is to identify patients with an increased need for pharmaceutical interventions. Consequently, pharmacists can focus on interventions for identified risk patients during medication reconciliation. Possible contributions by pharmacists include recommendations for replacing drugs with central anticholinergic effects, reviewing drug doses according to age and kidney function, and checking for potentially inadequate medication for older patients. In addition, general non-pharmacological preventive measures could be initiated through risk communication with doctors and nurses. A limitation of the DRD score is that other important risk factors, such as underlying diseases and functional and cognitive impairment, were not included. This is due to the focus on assessment during medication reconciliation with the aim of identifying patients who might benefit the most from drug safety recommendations. As the DRD score has been developed and internally validated in an orthopaedic and trauma surgery cohort, external validation in other patient populations is needed to broadly assess its predictive accuracy. Publication II addressed anticholinergic burden in admission medication as a predictive risk factor for postoperative delirium and investigated whether the drug dose should be taken into account. Three anticholinergic burden (ACB) scores were compared: the GerACB (potency-related), the extended Muscarinic Acetylcholinergic Receptor ANTagonist Exposure (extMARANTE) scale (potency- and dose-related) and the German Drug Burden Index (GerDBI) (dose-related). Overall, there was substantial agreement in the assessment of admission medication by the scores (interrater reliability for patients with and without postoperative delirium κ = 0.645 and κ = 0.632). For all three scores, a high burden was significantly associated with postoperative delirium in a multivariable analysis (adjusted for age, number of drugs in the admission medication, dementia, and American Society of Anesthesiologists status). When used as a screening tool, the scores achieved low sensitivity (GerACB 24%, extMARANTE 42%, GerDBI 41%), high specificity (GerACB 94%, extMARANTE 85%, GerDBI 88%), low PPV (GerACB 49%, extMARANTE 39%, GerDBI 43%) and high NPV (GerACB 85%, extMARANTE 87%, GerDBI 87%). The results indicate that due to their low sensitivity and PPV, none of the three ACB scores are suitable as stand-alone screening tools for postoperative delirium, although there was a significant association between a high burden and postoperative delirium. This emphasises the need to evaluate the anticholinergic burden alongside other risk factors for delirium, as with the DRD score. Additional dose consideration requires a more complex calculation, whereas medication assessment changes only slightly. The simple GerACB score had the lowest sensitivity but the highest specificity and PPV, making it sufficient for pragmatic screening of admission medication. In patients aged > 65 years with a high anticholinergic burden, potential substitution of drugs should be evaluated, especially for drugs with central anticholinergic effects. Although dose consideration using dose-related ACB scores was not deemed necessary in this study, age- and renal function-adjusted dosing should be checked during medication analysis. In summary, this dissertation evaluated methods to identify patients at risk for postoperative delirium at hospital admission based on their admission medication. Delirium risk-increasing and anticholinergic drugs in admission medication are predictive and potentially modifiable risk factors for postoperative delirium in patients aged > 65 years, especially in those with impaired renal function. The use of dose-related ACB scores is not necessary, and a simple potency-based ACB score remains sufficient for screening a patient’s medication. The impact of drugs as predictive risk factors and the use of the DRD and ACB scores must be evaluated in the context of the multifactorial aetiology of delirium, along with other predictive and precipitating risk factors. Therefore, a moderate sensitivity of the scores is acceptable, and potential pharmaceutical and non-pharmacological preventive measures should be derived and implemented for patients at risk. Both the DRD and ACB scores achieved high specificity, meaning that in the absence of medication-related risk factors, postoperative delirium is rare and pharmaceutical interventions regarding the admission medication should not be required frequently. Further investigations should determine whether risk patients according to the DRD score have an increased need for interventions in their medication, which pharmaceutical interventions are necessary, and whether it is possible and feasible to implement these interventions in the preoperative setting.
Dokumententyp: | Dissertationen (Dissertation, LMU München) |
---|---|
Keywords: | Postoperatives Delir, Delirrisiko-erhöhende Arzneimittel, anticholinerge Arzneimittel, prädiktiver Risikoscore |
Themengebiete: | 600 Technik, Medizin, angewandte Wissenschaften
600 Technik, Medizin, angewandte Wissenschaften > 610 Medizin und Gesundheit |
Fakultäten: | Medizinische Fakultät |
Sprache der Hochschulschrift: | Deutsch |
Datum der mündlichen Prüfung: | 15. September 2025 |
1. Berichterstatter:in: | Amann, Ute |
MD5 Prüfsumme der PDF-Datei: | ca52b44be3271151bf0f878ba9f4388b |
Signatur der gedruckten Ausgabe: | 0700/UMD 22452 |
ID Code: | 35843 |
Eingestellt am: | 02. Oct. 2025 11:16 |
Letzte Änderungen: | 02. Oct. 2025 11:17 |