Dinauer, Antje (2024): Integration präoperativer Computersimulation in die Knieendoprothetik. Dissertation, LMU München: Medizinische Fakultät |
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Abstract
Arthrose ist eine gesamtgesellschaftliche Erkrankung mit einer Ein-Jahres-Prävalenz in Deutschland von 21,8 % bei Frauen und 13,9 % bei Männern. Sie ist durch Zerstörung des Gelenkknorpels und anliegender Strukturen gekennzeichnet. Neben den körperlichen Einschränkungen mit damit einhergehenden starken Schmerzen kommt es zu einer Abnahme der Lebensqualität. In Deutschland wurden im Jahr 2021 laut dem ERPD 115 581 Knieendprothesen erstimplantiert. Ein Großteil der Patienten ist nach der Operation mit ihrem künstlichen Kniegelenk zufrieden, allerdings gibt es noch bis zu 19 % Patienten, bei denen eine Verbesserung der Funktionalität ausbleibt oder der Schmerz weiterbestehen bleibt. Häufig hat dies eine Revisionsoperation zur Folge. Neben anatomischen und funktionellen Untersuchungsmethoden hebt sich seit geraumer Zeit immer mehr die computerbasierte Untersuchungsmethode heraus. Vorteile dieser Vorgehensweise sind die realitätsnahen Einstellungsmöglichkeiten der mechanischen Randbedingungen und das Verhalten des Materials (wirkende Kräfte, Bewegungen, Druckfestigkeit, Deformierungen oder Steifigkeit) für jeden einzelnen Knotenpunkt. In der biomechanischen Forschung sind diese Eigenschaften von besonderer Bedeutung, da Vorhersagen über Protheseneigenschaften getroffen werden können, noch bevor diese am Patienten getestet werden. Oberstes Ziel dieser experimentellen Analyse ist die patientenindividuelle Anpassung von Prothesen, um die Revisionsrate weiter zu minimieren. Grundlage dieser Studie ist der bereits etablierte Münchener Kniegelenkskinemator. In diesem wurden für den ersten Schritt acht Humanpräparate sowohl im nativen als auch im postoperativen Zustand mit Knietotalendoprothese getestet. Dabei wurden der retropatellare Druck und die Quadrizepskraft über Sensoren aufgezeichnet. Ziel des ersten Abschnitts dieser Arbeit war die naturgetreue Nachstellung dieses Versuchsaufbaus auf Basis eines institutsinternen Finite-Elemente-Modells (FEM). Ein weiterer Zweck dieser wissenschaftlichen Abhandlung dient der Validierung der femoralen Rotationsachse der in vitro durchgeführten Versuchsreihen. Hinsichtlich der letzten Hypothese dieses Teils der Dissertation wurde der Frage nachgegangen, ob sich Veränderungen in der Bandspannung auf die Kniekinematik des FEMs auswirken. Die Segmentierung der Knochen, Knorpel und des Bandapparats erfolgte anhand der MRT-Daten im 3D Slicer und wurde anschließend in Geomagic zusammengefügt. In Catia fand die Modifikation des Modells hin zur realitätsnahen Nachbildung des Knies statt, wie es im Münchener Kniegelenkskinemator getestet worden ist. Hierfür wurde neben den medialen und lateralen Epikondylenpunkten der FFC-Punkt nach Pinskarova erstellt, die mechanische und anatomische Achse nach Luis definiert und die Quadrizepssehne anhand der gemessenen Durchmesser konstruiert. In Ansys wurden Einstellungen eines bestehenden FEMs als Vorlage herangezogen. Die Freiheitsgrade wurden nach dem Münchener Kniegelenkskinemator freigegeben. Die Vernetzung wurde um die posterior stabilisierende Prothese erweitert. Die Pointer-Ansatzpunkte wurden wie in vitro gesetzt. Der femorale Rollback des Kniegelenkes wurde durchgehend dokumentiert. Wurde der FFC-Punkt an den Femurkondylen gesetzt, resultierte daraus ein falsch hoher femorale Rollback. Zur Feststellung der anterioposterioren Bewegung wurde eine ANOVA verwendet. Die Methodik zur Applizierung des FFC in das FEM wurde eingeführt und die Relevanz des korrekten Rebuildings der In-vitro-Landmarken konnte reproduziert werden. Eine Änderung der Tibiarotation, der anterioposterioren Bewegung und der Belastung der Tibiaprothese konnte im Vergleich zur physiologischen Bandspannung lediglich bei einer Veränderung der Steifigkeit des medialen Ligaments beobachtet werden. Eine prozentuale Veränderung des lateralen Ligaments hat keinen Einfluss auf die Kniekinematik. Das LCL scheint zur Stabilisierung bei Extension von Bedeutung zu sein, da hier eine hohe Zugkraft zu beobachten war. Es konnte gezeigt werden, dass der mediale Bandapparat eine wesentliche Funktion in der Kniekinematik besitzt und postoperativ ein ausschlaggebender Faktor bezüglich der Belastung der Tibiaprothese ist. Bei der FEM-Simulation handelt es sich im Allgemeinen um ein vereinfachtes Modell. Für die Zukunft ist es notwendig, dass für die Kinematik relevante Strukturen wie z. B. der Hoffa‘sche Fettkörper oder die Patellaseitenbänder ergänzt werden. Weitere Untersuchungen werden veranschaulichen, inwieweit sich eine veränderte Kinematik bei zu straffer bzw. zu lockerer Spannung des medialen Ligaments auf die Patientenzufriedenheit auswirkt. Zudem muss zukünftig ermittelt werden, ob eine bestmögliche Ausrichtung im Sinne des Gap Balancings die Lebensdauer einer Knietotalendoprothese verlängern kann. Im zweiten Abschnitt dieser Arbeit wurde die Korrelation des anterioposterioren Kondylendurchmessers und der Quadrizepskraft untersucht. In verschiedenen Studien konnte eine Veränderung der Hebelkraft nachgewiesen werden. So kann ein Kniegelenksersatz mit Veränderung des ap Kondylendurchmessers zu einer Veränderung der Kinematik führen. Gleichwohl kann es auch bei langjähriger Arthrose selbst zu einer Abschwächung der Quadrizepskraft mit Verstärkung des Hebelarms kommen. D‘Lima konnte eine Reduktion der Quadrizepskraft bei gleichzeitiger Verringerung des Patellakompressionsdrucks mit einer daraus resultierenden Erhöhung des Quadrizepshebelarms belegen. Ziel dieser Studie war sowohl prä- als auch postoperativ der direkte Nachweis einer Veränderung des Hebelarms durch die Vermessung des anterioposterioren Kondylendurch-messers und die Erhebung der Quadrizepskraft im Münchener Kniegelenkskinemator. Auf diese Weise sollte ein Verhältnis zwischen der Quadrizepskraft und der ap Länge nach Maßgabe der Hebelgesetze ermittelt werden, um das Ausmaß der Änderung definieren zu können. Mit statistischer Signifikanz konnte ein Unterschied in nativem und operiertem Zustand in den anterioposterioren Kondylenlängen sowohl medial als auch lateral erhoben wer-den. Es wurde der Wilcoxon-Rang-Test durchgeführt. Zum Zeitpunkt des maximalen Hebels – bei 30° Extension, bei 60° Extension und bei 30° Flexion – wurde eine Differenz mit p < 0,05 festgestellt. Es kann daher postuliert werden, dass eine Verkürzung der AP-Länge von 1 mm eine Erhöhung der Quadrizepskraft von durchschnittlich 5,77 N zur Folge hat. Dieses Resultat wurde bei einer Bodenreaktionskraft von 50 N in vitro im Münchener Kniekinemator erhoben. Es muss von einem höheren Ergebnis ausgegangen werden, da Belastungen des täglichen Lebens eine Größenordnung von 200–300 % des Körpergewichts haben, so etwa beim Laufen oder beim Aufstehen. Es ist anzunehmen, dass in zukünftigen wissenschaftlichen Arbeiten mithilfe des retropatellaren Drucks zusätzlich zur AP-Länge und zur Quadrizepskraft die Genauigkeit der Definition erhöht werden kann. Einen weiteren Forschungsansatz für die Zukunft bildet die In-vitro-Erhebung des Hebelarms unter realen Belastungen. Zusammenfassend leisten beide Abschnitte dieser Dissertation einen wichtigen Beitrag zur ganzheitlichen Erforschung der Kinematik bei Knietotalendoprothese. Bereits in der Entwicklung neuer Prothesen wird die Berücksichtigung der Kniekiematik einen wichtigen Stellenwert haben. Ziel ist die umfassend validierte realitätsnahe Computersimulation, die auf jeden Patienten eine individuell zugeschnittene Prothese ermöglicht. Zudem kann die postoperative Änderung des Hebelarms Auswirkungen auf die Operationsplanung und die Methodik des Einbaus haben. Konservativ können neue physiotherapeutische Methoden zur postoperativen Beübung des Quadrizepsmuskels entwickelt werden, die die Zufriedenheit der Patienten erhöhen, ohne dass eine Revision notwendig wäre.
Abstract
Arthrosis is a common disease with a one-year prevalence in Germany of 21.8% in women and 13.9% in men. It is characterized by a degenerative destruction of joint cartilage and damage to adjacent structures. Along with the physical limitations and as-sociated severe pain, there is a decrease in quality of life. According to the ERPD, in Germany in 2021, 115,581 knee endoprostheses were implanted for the first time. A large proportion of patients are satisfied with their artificial knee joint after surgery, how-ever, there are still up to 19% in whom an improvement in functionality is absent or the pain persists. Often, this leads to a revision. In addition to anatomical and functional examination methods, computer-based methods have been increasingly standing out in recent years. Advantages of this approach include the realistic adjustment options of the mechanical boundary conditions and the behavior of the material (acting forces, movements, compressive strength, deformations or stiff-ness) for each individual nodal point. In biomechanical research, these properties are of particular importance as predictions about prosthesis properties can be made even be-fore they are tested on patients. The primary goal of this experimental analysis is the patient-specific adaptation of prostheses in order to further minimize the revision rate. The basis of this study is the implemented Munich Rig. In this, eight human specimens were tested both in their native and postoperative states for the first part. The retropatellar pressure and the quadriceps force were recorded via sensors. The aim of this section was to recreate this experimental setup faithfully based on an in-house finite element model. Another purpose of this scientific work was the validation of the FFC point of the in vitro conducted experimental series. The last hypothesis of this part of the dissertation investigated whether changes in ligament tension affect knee kinematics. The segmentation of the bones, cartilage, and ligament apparatus was performed using the MRI data in 3D Slicer and subsequently assembled in Geomagic. In Catia, the model was modified towards a realistic replication of the knee, as it has been tested in the Munich Rig. For this, the FFC point according to Pinskarova was created, the mechanical and anatomical axis defined according to Luis, and the quadriceps tendon was constructed based on the measured diameters. In Ansys, settings of the existing FE model were adjusted. The degrees of freedom were released according to the Munich Rig. The mesh was expanded around the posterior-stabilizing prosthesis. The pointer attachment points were set as in silico. The femoral rollback was consistently observed. When the FFC point was set at the fem-oral condyles, it led to a falsely high femoral rollback. An ANOVA was used to determine the anteroposterior movement. With high significance (< 0.001), the AP movement de-pends on the pointer tag and the flexion angle. A change in tibial rotation, anteroposterior movement, and load on the tibia prosthesis could only be observed with a change in the stiffness of the medial ligament. A percentage difference in the lateral ligament has no impact on knee kinematics. The lateral ligament appears to be important for stabilization during extension, as a high tensile force was observed here. It has been shown that the medial ligament apparatus plays an important role in knee kinematics and is an important factor postoperatively in the load on the tibial prosthesis. The simulation is a simplified model. For the future, it is necessary to include structures important for kinematics, such as Hoffa's fat pad or the patella side ligaments. Further studies will show to what extent changed kinematics due to too tight or too loose tension of the medial ligament impacts patient satisfaction. In addition, it needs to be demonstrated in the future whether the best possible alignment in the sense of gap balancing can extend the lifespan of a total knee arthroplasty. In the second section of this work, the correlation between the anteroposterior condylar diameters and the quadriceps force was examined. Various studies have been able to demonstrate a change in leverage. Thus, a knee joint replacement can lead to a change in kinematics. But even in long-standing arthrosis itself, there can be a weakening of the quadriceps force with an increase in the lever arm. D'Lima was able to demonstrate a reduction in quadriceps force with a simultaneous decrease in patella compression pressure, resulting in an increase in the quadriceps lever arm. The aim of this study was the direct demonstration of a change in the lever arm by measuring the anteroposterior condylar diameter and recording the quadriceps force in the Munich Rig. We expected to be able to derive a formula to define the extent of the change. With statistical significance, a difference in the lengths of the condyles, both medially and laterally, could be determined in the native and operated states. The Wilcoxon Rank Test was performed. A difference with p < 0.05 was observed at the time of maximum leverage, at 30° extension, at 60° extension, and at 30° flexion. It can be postulated that a shortening of the AP length by one-millimeter results in an increase in quadriceps force by an average of 5.77 N. This result was obtained with a ground reaction force of 50 N in vitro in the Munich Rig. A higher result must be expected, as daily life loads have an order of magnitude of 200-300 N, such as when running or standing up. This study is the first to provide a definition of the leverage force using the AP length and putting it into relation. It is anticipated that in future scientific work, the accuracy of the definition can be increased with the help of retropatellar pressure, in addition to AP length and quadriceps force. Another research approach for the future is the in vitro measurement of the lever arm under real loads. In summary, both sections of this dissertation make an important contribution to holistic research into the kinematics of total knee arthroplasty. The consideration of knee kinematics will already play an important role in the development of new prostheses. The aim is a comprehensively validated, realistic computer simulation that enables an individually tailored prosthesis for each patient. In addition, the postoperative change in the lever arm can have an impact on surgical planning and the method of fitting. New physiotherapeutic methods for postoperative exercise of the quadriceps muscle can be developed conservatively to increase patient satisfaction without the need for revision.
Dokumententyp: | Dissertationen (Dissertation, LMU München) |
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Keywords: | Finite Elemente Methode, Knieendoprothetik, Orthopädie, Hebel, Arthrose, Knie |
Themengebiete: | 600 Technik, Medizin, angewandte Wissenschaften
600 Technik, Medizin, angewandte Wissenschaften > 610 Medizin und Gesundheit |
Fakultäten: | Medizinische Fakultät |
Sprache der Hochschulschrift: | Deutsch |
Datum der mündlichen Prüfung: | 23. September 2024 |
1. Berichterstatter:in: | Steinbrück, Arnd |
MD5 Prüfsumme der PDF-Datei: | 5b6b79c6f5e139d583646f7343b12710 |
Signatur der gedruckten Ausgabe: | 0700/UMD 22441 |
ID Code: | 34245 |
Eingestellt am: | 29. Sep. 2025 10:01 |
Letzte Änderungen: | 29. Sep. 2025 10:04 |