Gerl, Thomas (2023): Arten- und Formenkenntnis von Kindern und Erwachsenen am Beispiel der Wirbeltiere unter besonderer Berücksichtigung der Vögel. Dissertation, LMU München: Fakultät für Biologie |
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Abstract
Arten- und Formenkenntnis ist nicht nur eine Voraussetzung für Maßnahmen zum Schutz der biologischen Vielfalt, sondern leistet auch einen Beitrag zur Erschließung der Welt und steigert das persönliche Wohlbefinden. Trotz dieser Bedeutung liegen aus Deutschland keine aktuellen Daten vor, wie viele Arten verschiedene Bevölkerungsgruppen erkennen. In dieser Dissertation wurde deshalb die Arten- und Formenkenntnis von Kindern und Erwachsenen bei Wirbeltieren im Allgemeinen und Vögeln im Besonderen untersucht, die Bedeutung verschiedener Einflussfaktoren auf diese ermittelt und schließlich auf Grundlage dieser Daten ein Kompetenzstrukturmodell der taxonomischen Bildung sowie Lerngelegenheiten zum Aufbau von Arten- und Formenkenntnissen entwickelt. In drei unabhängig durchgeführten empirischen Fragebogen-Studien wurden insgesamt knapp 4000 Probanden befragt. Eine dieser drei Studien untersuchte an 984 Gymnasiast:innen der Jahrgangsstufe 6 wie viele Wirbeltier-Arten die Kinder erkennen konnten. Die beiden weiteren Studien testeten die Vogel-Arten- und Formenkenntnis von 1957 Schüler:innen aller Schularten bzw. einer repräsentativ ausgewählten Gruppe von 1003 Erwachsenen. Mithilfe von soziodemographischen Variablen, der Anzahl an Gelegenheiten, Tierbeobachtungen zu machen, sowie persönlichen Interessen und Erwartungen sollte die Varianz der mittleren Testleistungen aufgeklärt werden. Schülerinnen schneiden in den Tests besser als Schüler ab, während das Geschlecht bei Erwachsenen, genau wie die Größe des Wohnorts keine Rolle spielt. Kinder aus Großstädten erkennen mehr Vogel-, aber nicht mehr Wirbeltier-Arten als jene aus ländlichen Regionen. Schüler:innen mit nicht-deutscher Muttersprache erzielen schlechtere Testergebnisse im Bereich der Wirbeltier-Formenkenntnis. Unter den Erwachsenen erkennen ältere Menschen signifikant mehr Vögel als jüngere. Gelegenheiten für Tierbeobachtungen verbessern die Arten- und Formenkenntnis stärker, wenn sie gezielt (z.B. an Futterstellen, Nistkästen oder bei der Stunde der Winter- bzw. Gartenvögel) erfolgen, als wenn sie sich zufällig beim Spielen oder im Rahmen von Unterrichtsgängen ereignen. Die persönliche Erwartung an das Testergebnis war der Prädiktor mit der größten Effektstärke für die Wirbeltier-Arten- und Formenkenntnis, gefolgt von der unterrichtenden Lehrkraft. Weder das Lieblingsfach der Schüler:innen noch ihre Leistungen im Fach Biologie wirkten sich auf die Zahl der erkannten Wirbeltier-Arten aus. Bei Erwachsenen hatten weitere Faktoren aus dem Bereich der persönlichen Interessen (z.B. Mitgliedschaft in einem Naturschutzverband, Spendenbereitschaft oder die Quellen des Wissens) einen Einfluss auf die Anzahl der richtig benannten Vögel. Unter den Wirbeltieren werden Säugetiere besonders gut, Vögel dagegen eher schlecht erkannt. Der Vergleich mit ähnlichen Untersuchungen aus der Vergangenheit belegt ein „shifting baseline“ Syndrom bei Schüler:innen, die heute rund 15% weniger Wirbeltier- bzw. rund 20% weniger Vogel-Arten erkennen als bei vergleichbaren Erhebungen im Jahr 2006 bzw. 2007. Der Befund, dass die Arten- und Formenkenntnis der Testpersonen stärker von den tatsächlichen Naturbeobachtungen der Probanden sowie persönlichen Interessen und Erwartungen als von soziodemographischen Faktoren abhängt, legt die Vermutung nahe, dass beim Erwerb dieses Fachwissens motivatorische Aspekte eine besondere Rolle spielen. Dies erklärt auch, warum Kinder die für sie interessanten Säugetiere häufiger richtig benennen als Vertreter anderer Taxa. Neben dem Interesse an den Tieren fördern auch auffällige morphologische Merkmale oder sprechende Namen im Gegensatz zur Beobachtbarkeit der Arten die Bekanntheit der Tiere. Der Rückgang der Arten- und Formenkenntnis bei Schüler:innen könnte u.a. auf die geringere Bedeutung taxonomischer Inhalte in den Biologie-Lehrplänen zurückzuführen sein. Um diesem Verlust des Wissens entgegenzuwirken, sollten Arten- und Formenkenntnis in schulischen und außerschulischen Prozessen verbessert werden. Dafür wird ein Kompetenzstrukturmodell der taxonomischen Bildung entwickelt und diskutiert, das neben dem Erkennen von Arten aus dem Kompetenzbereich „Fachwissen“ auch das Bestimmen unbekannter Spezies aus dem Kompetenzbereich „Erkenntnisgewinnung“ umfasst. Die Nutzung digitaler Medien erlaubt dabei neue didaktische und methodische Ansätze. Die konkrete Umsetzung dieser Überlegungen wird an Praxisbeispielen für den Biologie-Unterricht (BISA-Projekt) und die Erwachsenenbildung (NABU│naturgucker-Akademie) vorgestellt, um so Menschen zu befähigen, die mit dem Erhalt der biologischen Vielfalt verbundenen Herausforderungen zu meistern.
Abstract
Species knowledge is not only a prerequisite for measures to protect biodiversity, but also contributes to the understanding of the world and increases personal well-being. Despite this importance, there are no current data from Germany on how many species different population groups recognize. In this dissertation, therefore, the children’s and adults’ species knowledge of vertebrates in general and birds in particular were investigated, the significance of various influencing factors was determined and finally a competence structure model of taxonomic literacy as well as learning opportunities for the development of species knowledge were developed on the basis of these data. In three independently conducted empirical questionnaire studies, a total of almost 4000 people were interviewed. One of these three studies examined 984 grammar school students in grade 6 to see how many vertebrate species the children could recognize. The two further studies tested the bird species knowledge of 1957 pupils of all school types ana a representatively selected group of 1003 adults. With the help of sociodemographic variables, the number of opportunities to make animal observations, as well as personal interests and expectations, the variance of the mean test performance should be evaluated. Female students perform better than male students in the tests, while gender does not matter in adults, just like the size of the place of residence. Children from large cities recognize more bird species, but not more vertebrate species than those from rural areas. Students with a non-German mother tongue achieve worse test results in vertebrate species knowledge. Among adults, older people recognize significantly more birds than younger ones. Opportunities for animal observation improve species knowledge more if they are focused (e.g. at feeding sites, nesting boxes or at the hour of winter or garden birds) than if they happen by chance while playing or during excursions with the class. The personal expectation of the test result was the predictor with the greatest effect size for vertebrate species knowledge, followed by the teacher. Neither the students' favorite subject nor their performance in biology affected the number of vertebrate species recognized. In adults, other factors from the area of personal interests (e.g. membership in a nature conservation association, willingness to donate or the sources of knowledge) had an influence on the number of correctly named birds. Among vertebrates, mammals are particularly well recognized, while birds were poorly identified. The comparison with similar studies from the past shows a "shifting baseline" syndrome in students, who today recognize about 15% fewer vertebrate and about 20% fewer bird species than in comparable surveys of 2006 and 2007. The finding that the test subjects' knowledge of species depends more on the subjects' actual observations of nature as well as on personal interests and expectations than on sociodemographic factors suggests that motivatory aspects play a special role in the acquisition of this expertise. This also explains why children are more likely to correctly name mammals, that are more interesting to them than representatives of other taxa. In addition to the interest in the animals, conspicuous morphological features, or meaningful names, in contrast to the observability of the species, promote the popularity of the animals. The decline in the knowledge of species among pupils could be due, among other things, to the lower importance of taxonomic content in biology curricula. In order to counteract this loss of expertise, species knowledge should be fostered in school and extracurricular processes. For this purpose, a competence structure model of taxonomic education is developed and discussed, which, in addition to the recognition of species from the competence area "content knowledge", also includes the determination of unknown species from the competence domain "knowledge acquisition". The use of digital media allows new didactic and methodological approaches. The concrete implementation of these considerations will be presented using practical examples for biology lessons (BISA project) and adult education (NABU│naturgucker-Akademie) in order to enable people to meet the challenges associated with the conservation of biodiversity.
Dokumententyp: | Dissertationen (Dissertation, LMU München) |
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Themengebiete: | 500 Naturwissenschaften und Mathematik
500 Naturwissenschaften und Mathematik > 570 Biowissenschaften, Biologie |
Fakultäten: | Fakultät für Biologie |
Sprache der Hochschulschrift: | Deutsch |
Datum der mündlichen Prüfung: | 20. Juni 2023 |
1. Berichterstatter:in: | Neuhaus, Birgit |
MD5 Prüfsumme der PDF-Datei: | 798e175cccd832ff7a4ea8ffe3944625 |
Signatur der gedruckten Ausgabe: | 0001/UMC 29726 |
ID Code: | 31993 |
Eingestellt am: | 26. Jul. 2023 13:43 |
Letzte Änderungen: | 14. Aug. 2023 12:36 |