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Einsatz von Sedativa in den letzten sieben Lebenstagen bei Patient*innen mit malignen Erkrankungen auf Krankenhausstationen der Hämatologie/Onkologie
Einsatz von Sedativa in den letzten sieben Lebenstagen bei Patient*innen mit malignen Erkrankungen auf Krankenhausstationen der Hämatologie/Onkologie
Hintergrund: Trotz des kontinuierlichen Fortschrittes in der Medizin gibt es weiterhin Erkrankungen, die kurativ nicht behandelbar sind. In solchen Situationen kann die Palliativversorgung helfen, das Leiden zu lindern und die Lebensqualität zu steigern. Wenn alle Therapiekonzepte zur Leidenslinderung versagt haben, kann eine Sedierung in der Palliativversorgung eine letztmögliche Behandlungsoption sein. Bislang mangelt es an einer einheitlichen Definition und Kriterien für Sedierung in der Palliativversorgung, weshalb die in der Literatur angegebenen Prävalenzen einer solchen Sedierung stark divergieren. Zudem wurden der Einsatz von Sedativa und Sedierung außerhalb der spezialisierten Palliativversorgung bisher kaum untersucht. Zielsetzung: Ziel der vorliegenden Doktorarbeit war es, den Einsatz von Sedativa in den letzten sieben Lebenstagen bei Patient*innen mit malignen Erkrankungen auf Krankenhausstationen der Hämatologie/Onkologie zu beschreiben. Die Charakteristika der Anwendung von Sedativa sollten erfasst und die soziodemographischen und klinischen Charakteristika zwischen Patient*innen, die Sedativa (mit kontinuierlichen Effekt) erhielten, und Patient*innen, die keine Sedativa (mit kontinuierlichem Effekt) erhielten, verglichen werden. Methoden: Es wurde eine retrospektive Kohorten-Studie in Form einer Aktenanalyse der Daten der letzten sieben Lebenstage von Patient*innen mit malignen Erkrankungen, die in zwei Münchener Kliniken für Hämatologie/Onkologie im Zeitraum zwischen dem 1. Januar 2015 und dem 31. Dezember 2017 verstarben, durchgeführt. Im Rahmen dieser Studie wurden nur solche Medikamente als „Sedativa“ untersucht, die in Leitlinien für Sedierung in der Palliativversorgung empfohlen werden (Haloperidol, Levomepromazin, Clonazepam, Diazepam, Flunitrazepam, Lorazepam, Lormetazepam, Midazolam, Oxazepam, Propofol). „Sedativa mit kontinuierlichem Effekt” wurden definiert als kontinuierliche parenterale Infusion für ≥ 0,5 Stunden oder wiederholte Applikationen, die erwartungsgemäß zu einer Sedierung für ≥ 24 Stunden führen. Die als „wahrscheinlich mindestens mäßiggradig sedierend“ beurteilte Dosis wurde als 24 mg für parenterales Midazolam und 4 mg für orales Lorazepam definiert. Die Reinigung und Analyse der Daten erfolgte mit dem Statistikprogramm R, Version 3.6.1. Es wurden deskriptive und bivariate statistische Analysen durchgeführt. Je nach Zielgröße und Verteilungsannahme wurden der Mann-Whitney-U-Test, der Chi-Quadrat-Test oder der exakte Test nach Fischer verwendet. Es wurde ein Signifikanzniveau von fünf Prozent verwendet. Ergebnisse: 231 Patient*innen wurden in die Studie eingeschlossen. 104 Patient*innen waren weiblich. Mittleres Alter aller Patient*innen war 69 Jahre (60-77;22-93). In ihrer letzten Lebenswoche erhielten 169/231 Patient*innen (73 %) mindestens einmal ein Sedativum. 120/169 Patient*innen (71 %) wurde ein Sedativum mit kontinuierlichem Effekt verabreicht. 40/231 aller Patient*innen (17 %) erhielten Sedativa in einer „wahrscheinlich mindestens mäßiggradig sedierenden“ Dosis. Insgesamt wurden bei 18/231 aller Patient*innen (8 %) die Begriffe „Sedierung“ oder „sedierend“ in der Patient*innenakte dokumentiert. Je näher das Versterben der Patient*innen rückte, desto häufiger wurden Sedativa eingesetzt. Die Benzodiazepine Midazolam (bei 116/231 aller Patient*innen (50 %)) und Lorazepam (bei 102/231 aller Patient*innen (44 %)) wurden am häufigsten eingesetzt. Die Tagesgesamtdosis von Midazolam lag im Median bei 10 mg/d, die von Lorazepam bei 1 mg/d. Patient*innen, die Sedativa erhielten, waren im Vergleich zu Patient*innen, die keine Sedativa erhielten, jünger (p=0,024), wurden länger stationär behandelt (p=0,011) und häufiger von einem Palliativdienst im Krankenhaus betreut (p<0,001). Sie wurden außerdem häufiger enteral oder parenteral ernährt (p=0,029) und mit Opioiden behandelt (p<0,001). Patient*innen, die Sedativa mit kontinuierlichem Effekt erhielten, waren jünger (p<0,001), öfter weiblich (p=0,025), hatten einen längeren stationären Aufenthalt (p=0,036) und häufiger solide Tumore (p=0,026). Sie wurden häufiger von einem Palliativdienst mitbetreut (p<0,001), vermehrt begleitend enteral oder parenteral ernährt (p=0,022) und häufiger zusätzlich mit Opioiden behandelt (p<0,001), als Patient*innen, die keine Sedativa mit kontinuierlichem Effekt erhielten. Diskussion: Die vorliegende Arbeit zeigt, dass Sedativa auch auf Krankenhausstationen außerhalb der spezialisierten Palliativversorgung am Lebensende häufig eingesetzt werden. Auch bei Einsatz von Sedativa mit kontinuierlichem Effekt in einer „wahrscheinlich mindestens mäßiggradig sedierenden“ Dosis wurde dies nur bei einer Minderheit auch als „Sedierung“ in der Patient*innenakte vermerkt. Dies könnte auf eine Unsicherheit hinweisen, ab wann der Einsatz von Sedativa auch wirklich eine Sedierung darstellt. Perspektivisch sind deswegen einheitliche, objektive und messbare Kriterien wichtig, um – trotz aller interindividuellen Variabilität – bei dieser Einordnung zu unterstützen. Zusätzlich kann die Erstellung von Standard Operating Procedures (SOP), also standardisierten Vorgehensweisen für einzelne Kliniken, für den Einsatz von Sedativa und Sedierung am Lebensende dazu beitragen, die Indikationsstellung sowie die Dokumentation und Überwachung des Einsatzes von Sedativa, insbesondere in sedierenden Dosen, gemäß best-practice- Standards zu gewährleisten.
palliativ, Sedierung
Licher, Ann Sophie
2023
Deutsch
Universitätsbibliothek der Ludwig-Maximilians-Universität München
Licher, Ann Sophie (2023): Einsatz von Sedativa in den letzten sieben Lebenstagen bei Patient*innen mit malignen Erkrankungen auf Krankenhausstationen der Hämatologie/Onkologie. Dissertation, LMU München: Medizinische Fakultät
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Abstract

Hintergrund: Trotz des kontinuierlichen Fortschrittes in der Medizin gibt es weiterhin Erkrankungen, die kurativ nicht behandelbar sind. In solchen Situationen kann die Palliativversorgung helfen, das Leiden zu lindern und die Lebensqualität zu steigern. Wenn alle Therapiekonzepte zur Leidenslinderung versagt haben, kann eine Sedierung in der Palliativversorgung eine letztmögliche Behandlungsoption sein. Bislang mangelt es an einer einheitlichen Definition und Kriterien für Sedierung in der Palliativversorgung, weshalb die in der Literatur angegebenen Prävalenzen einer solchen Sedierung stark divergieren. Zudem wurden der Einsatz von Sedativa und Sedierung außerhalb der spezialisierten Palliativversorgung bisher kaum untersucht. Zielsetzung: Ziel der vorliegenden Doktorarbeit war es, den Einsatz von Sedativa in den letzten sieben Lebenstagen bei Patient*innen mit malignen Erkrankungen auf Krankenhausstationen der Hämatologie/Onkologie zu beschreiben. Die Charakteristika der Anwendung von Sedativa sollten erfasst und die soziodemographischen und klinischen Charakteristika zwischen Patient*innen, die Sedativa (mit kontinuierlichen Effekt) erhielten, und Patient*innen, die keine Sedativa (mit kontinuierlichem Effekt) erhielten, verglichen werden. Methoden: Es wurde eine retrospektive Kohorten-Studie in Form einer Aktenanalyse der Daten der letzten sieben Lebenstage von Patient*innen mit malignen Erkrankungen, die in zwei Münchener Kliniken für Hämatologie/Onkologie im Zeitraum zwischen dem 1. Januar 2015 und dem 31. Dezember 2017 verstarben, durchgeführt. Im Rahmen dieser Studie wurden nur solche Medikamente als „Sedativa“ untersucht, die in Leitlinien für Sedierung in der Palliativversorgung empfohlen werden (Haloperidol, Levomepromazin, Clonazepam, Diazepam, Flunitrazepam, Lorazepam, Lormetazepam, Midazolam, Oxazepam, Propofol). „Sedativa mit kontinuierlichem Effekt” wurden definiert als kontinuierliche parenterale Infusion für ≥ 0,5 Stunden oder wiederholte Applikationen, die erwartungsgemäß zu einer Sedierung für ≥ 24 Stunden führen. Die als „wahrscheinlich mindestens mäßiggradig sedierend“ beurteilte Dosis wurde als 24 mg für parenterales Midazolam und 4 mg für orales Lorazepam definiert. Die Reinigung und Analyse der Daten erfolgte mit dem Statistikprogramm R, Version 3.6.1. Es wurden deskriptive und bivariate statistische Analysen durchgeführt. Je nach Zielgröße und Verteilungsannahme wurden der Mann-Whitney-U-Test, der Chi-Quadrat-Test oder der exakte Test nach Fischer verwendet. Es wurde ein Signifikanzniveau von fünf Prozent verwendet. Ergebnisse: 231 Patient*innen wurden in die Studie eingeschlossen. 104 Patient*innen waren weiblich. Mittleres Alter aller Patient*innen war 69 Jahre (60-77;22-93). In ihrer letzten Lebenswoche erhielten 169/231 Patient*innen (73 %) mindestens einmal ein Sedativum. 120/169 Patient*innen (71 %) wurde ein Sedativum mit kontinuierlichem Effekt verabreicht. 40/231 aller Patient*innen (17 %) erhielten Sedativa in einer „wahrscheinlich mindestens mäßiggradig sedierenden“ Dosis. Insgesamt wurden bei 18/231 aller Patient*innen (8 %) die Begriffe „Sedierung“ oder „sedierend“ in der Patient*innenakte dokumentiert. Je näher das Versterben der Patient*innen rückte, desto häufiger wurden Sedativa eingesetzt. Die Benzodiazepine Midazolam (bei 116/231 aller Patient*innen (50 %)) und Lorazepam (bei 102/231 aller Patient*innen (44 %)) wurden am häufigsten eingesetzt. Die Tagesgesamtdosis von Midazolam lag im Median bei 10 mg/d, die von Lorazepam bei 1 mg/d. Patient*innen, die Sedativa erhielten, waren im Vergleich zu Patient*innen, die keine Sedativa erhielten, jünger (p=0,024), wurden länger stationär behandelt (p=0,011) und häufiger von einem Palliativdienst im Krankenhaus betreut (p<0,001). Sie wurden außerdem häufiger enteral oder parenteral ernährt (p=0,029) und mit Opioiden behandelt (p<0,001). Patient*innen, die Sedativa mit kontinuierlichem Effekt erhielten, waren jünger (p<0,001), öfter weiblich (p=0,025), hatten einen längeren stationären Aufenthalt (p=0,036) und häufiger solide Tumore (p=0,026). Sie wurden häufiger von einem Palliativdienst mitbetreut (p<0,001), vermehrt begleitend enteral oder parenteral ernährt (p=0,022) und häufiger zusätzlich mit Opioiden behandelt (p<0,001), als Patient*innen, die keine Sedativa mit kontinuierlichem Effekt erhielten. Diskussion: Die vorliegende Arbeit zeigt, dass Sedativa auch auf Krankenhausstationen außerhalb der spezialisierten Palliativversorgung am Lebensende häufig eingesetzt werden. Auch bei Einsatz von Sedativa mit kontinuierlichem Effekt in einer „wahrscheinlich mindestens mäßiggradig sedierenden“ Dosis wurde dies nur bei einer Minderheit auch als „Sedierung“ in der Patient*innenakte vermerkt. Dies könnte auf eine Unsicherheit hinweisen, ab wann der Einsatz von Sedativa auch wirklich eine Sedierung darstellt. Perspektivisch sind deswegen einheitliche, objektive und messbare Kriterien wichtig, um – trotz aller interindividuellen Variabilität – bei dieser Einordnung zu unterstützen. Zusätzlich kann die Erstellung von Standard Operating Procedures (SOP), also standardisierten Vorgehensweisen für einzelne Kliniken, für den Einsatz von Sedativa und Sedierung am Lebensende dazu beitragen, die Indikationsstellung sowie die Dokumentation und Überwachung des Einsatzes von Sedativa, insbesondere in sedierenden Dosen, gemäß best-practice- Standards zu gewährleisten.