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Medizinische Entscheidungen in der Orthopädie aus Perspektive der Arzt-Patient-Interaktion. eine explorative Mixed Methods Studie
Medizinische Entscheidungen in der Orthopädie aus Perspektive der Arzt-Patient-Interaktion. eine explorative Mixed Methods Studie
Wissenschaftlicher Hintergrund Die Volkskrankheit Arthrose konfrontiert jährlich unzählige Patienten mit den Möglichkeiten der orthopädischen Chirurgie im Bereich der Endoprothetik. Regionale Unterschiede in der Häufigkeit der endoprothetischen Versorgung verdeutlichen u.a. die Bedeutsamkeit partizipativer Entscheidungsprozeduren. Während Patienten generell mehr Mitentscheidung einfordern, scheinen Ärzte teilweise noch in paternalistischen Konzepten verhaftet zu sein. Eine Untersuchung der Perspektiven von Arthrosepatienten und ihren orthopädischen Ärzten könnte hilfreiche Handlungsansätze bieten. Methoden Im Rahmen einer Mixed-Methods-Studie wurde die Arzt-Patienten-Interaktion rund um medizinische Entscheidungsprozesse in der orthopädischen Ambulanz aus der Perspektive von Arthrosepatienten (I.) und orthopädischen Ärzten (II.) untersucht. I. Die Patientenperspektive wurde im Rahmen einer Fragebogenstudie mit N=422 Arthrosepatienten erhoben. Die Gestaltung medizinischer Entscheidungsprozesse sowie die Partizipationspräferenz wurde mit dem Fragebogen zur Partizipativen Entscheidungsfindung PEF-FB-9 erfasst. Zudem wurden diverse Einflussvariablen wie Zufriedenheit mit der Entscheidung, Alter, Vorinformation sowie psychische Belastung (HADS-D) miteinbezogen. II. Um die Ausgestaltung medizinischer Entscheidungsprozesse aus Perspektive der orthopädischen Ärzte genauer zu verstehen, wurden teilstrukturierte Interviews (N=9) durchgeführt und mit der Methode des Process Codings (Saldaña, 2012) ausgewertet. Ergebnisse I. Bei 84,4% (n=356) der befragten Arthrosepatienten wurde im Arzt-Gespräch eine medizinische Entscheidung getroffen. Diese fiel bei ca. einem Drittel (33,4%, N=422) für eine Operation aus und bei einem weiteren Drittel (35,1%, N=422) für eine konservative Therapie. Mit der getroffenen Entscheidung waren ca. 80% der Patienten zufrieden, die restlichen 20% äußerten diverse Kritikpunkte. Das Ausmaß an Partizipation über alle Phasen der Entscheidung wurde mit dem PEF-FB-Summenscore erfasst und betrug durchschnittlich M=54,8 (N=356; 0=keine bis 100=maximale Partizipation) bei einer großen Streuung von SD=27,1. 88% der befragten Arthrosepatienten möchten gemeinsam mit dem Arzt oder allein entscheiden (15,5% möchten komplett oder hauptsächlich selbst entscheiden, 72,5% gemeinsam mit dem Arzt und 12,1% wünschen sich, dass hauptsächlich oder nur der Arzt entscheidet). Das Ausmaß an erfolgter Partizipation korrelierte signifikant (r=0,322; p<0,001) mit der Zufriedenheit mit der getroffenen Entscheidung. 94,7% der Arthrosepatienten, in deren Gespräch eine Entscheidung getroffen wurde, informierten sich im Vorfeld des Gesprächs über das Internet, 19,9% über Patientenbroschüren und 17,7% über Fachliteratur, 25% holten sich Rat von Angehörigen oder Bekannten, 1,1% in Selbsthilfegruppen und 9,3% nutzten noch andere Quellen. Das Ausmaß an Vorinformation nahm mit dem Alter signifikant zu (p=0,003). Ausführliche Vorinformation steht mit einer höheren wahrgenommenen Partizipation in Zusammenhang (p=0,04; N=356). In der Gesamtpopulation der befragten 422 Arthrosepatienten (M=57,7 Jahre) litten 36% an klinisch relevanten Ängsten und 27% an klinisch relevanten Depressionen (HADS-D). 43,1% der Patienten litten an Angst und/oder Depressionen (182 von 422). Bei den 141 Patienten, die vor einer Operationsentscheidung standen, litten deutlich mehr Patienten an Ängsten (42%), während die Zahl der depressiven Patienten nahezu gleich war (29%). 85% (N= 141) gab an, sich Sorgen um die Operation zu machen. Nur die Hälfte der Patienten (53,2%, N=141) seien von ihrem Arzt oder ihrer Ärztin auf mögliche Bedenken oder Ängste in Bezug auf die Operation angesprochen worden. Zweidrittel (63,1%, N=141) hätten sich gewünscht, dass dieser mehr auf Bedenken und Ängste eingeht. Arthrosepatienten, die vor einer Operation standen und klinisch relevante Ängste hatten (n=49, N=140), bewerteten das Arztgespräch signifikant weniger partizipativ (p≤0,05), als Patienten ohne klinisch relevante Ängste (n=81). Zwischen Depression und Partizipation konnte kein Zusammenhang gefunden werden (p=0,524). II. Die Auswertung der qualitativen Ärzteinterviews liefert diverse Erklärungsmöglichkeiten und Lösungsansätze für die, in der quantitativen Studie erhobene, große Diskrepanz zwischen dem ausgeprägten Partizipationswunsch der Arthrosepatienten und dem vergleichsweise geringen Einbezug. Bestimmte Rahmenbedingungen der orthopädischen Ambulanz erwiesen sich aus Ärzte- und Patientensicht problematisch, wie lange Wartezeiten, ständige Unterbrechungen (durch Funk, Studenten, Krankenschwester) und die wechselnden Ärzte. Problembereiche und Lösungsansätze zeigten sich beim Beziehungsaufbau zu Beginn des Gesprächs sowie beim Informationsaustausch zwischen Arzt und Patient. Die befragten Ärzte sprechen Patienten eine grundsätzliche (Mit)-Entscheidungsfähigkeit zu. Die ermöglichte Entscheidungsqualität aber auch die vom Arzt tatsächlich zugestandene Entscheidungsmöglichkeit wird jedoch von bestimmten Bedingungen abhängig gemacht, wie Bedingungen der gesundheitlichen Situation, der zur Verfügung stehenden Therapiemöglichkeiten, Bedingungen im Arzt (Vermittlungsfähigkeit- und -bereitschaft) und Bedingungen im Patienten (diverse Verständnisprobleme). Aus ärztlicher Sicht sind Partizipationswünsche und eigenständige Vorinformation von Patienten häufiger geworden, führen jedoch teils zu Problemen. Dabei zeigen sich unterschiedliche Strategien im Umgang damit. Eine vergleichende Analyse der verschiedenen Vorgehensweisen im Entscheidungsprozess zeigt eine Bandbreite an Grauschattierungen jenseits der schwarz-weißen Einordnung in arztzentrierte und patientenzentrierte Entscheidungen. Diskussion Arthrosepatienten stellen eine vielfältig vorinformierte Patientengruppe mit ausgeprägtem Partizipationswunsch dar. Beides wird teilweise von den betreuenden Orthopäden deutlich unterschätzt. Die geringe Entscheidungspartizipation durch die Ärzte scheint nicht nur ein Phänomen der Rahmenbedingungen der orthopädischen Ambulanz zu sein, sondern findet sich zum Teil auch in Einstellungen und Strategien der befragten Ärzte wieder. Jedoch zeigen sich hier auch Best Practice Ansätze, die die Umsetzbarkeit partizipativerer Vorgehensweisen in diesem Setting belegen und hilfreiche Ansatzpunkte für beispielsweise ein Ärztetraining bieten können. Dabei sollte die sehr hohe psychische Belastung der Arthrosepatienten, insbesondere bei bevorstehenden Operationen, mehr Berücksichtigung finden, z.B. auch durch den routinemäßigen Einsatz des HADS-D.
Arzt-Patient-Interaktion, shared decision making, partizipative Entscheidungsfindung, Orthopädie, Arthrose
Gesell, Isabella Susanne
2022
Deutsch
Universitätsbibliothek der Ludwig-Maximilians-Universität München
Gesell, Isabella Susanne (2022): Medizinische Entscheidungen in der Orthopädie aus Perspektive der Arzt-Patient-Interaktion: eine explorative Mixed Methods Studie. Dissertation, LMU München: Medizinische Fakultät
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Abstract

Wissenschaftlicher Hintergrund Die Volkskrankheit Arthrose konfrontiert jährlich unzählige Patienten mit den Möglichkeiten der orthopädischen Chirurgie im Bereich der Endoprothetik. Regionale Unterschiede in der Häufigkeit der endoprothetischen Versorgung verdeutlichen u.a. die Bedeutsamkeit partizipativer Entscheidungsprozeduren. Während Patienten generell mehr Mitentscheidung einfordern, scheinen Ärzte teilweise noch in paternalistischen Konzepten verhaftet zu sein. Eine Untersuchung der Perspektiven von Arthrosepatienten und ihren orthopädischen Ärzten könnte hilfreiche Handlungsansätze bieten. Methoden Im Rahmen einer Mixed-Methods-Studie wurde die Arzt-Patienten-Interaktion rund um medizinische Entscheidungsprozesse in der orthopädischen Ambulanz aus der Perspektive von Arthrosepatienten (I.) und orthopädischen Ärzten (II.) untersucht. I. Die Patientenperspektive wurde im Rahmen einer Fragebogenstudie mit N=422 Arthrosepatienten erhoben. Die Gestaltung medizinischer Entscheidungsprozesse sowie die Partizipationspräferenz wurde mit dem Fragebogen zur Partizipativen Entscheidungsfindung PEF-FB-9 erfasst. Zudem wurden diverse Einflussvariablen wie Zufriedenheit mit der Entscheidung, Alter, Vorinformation sowie psychische Belastung (HADS-D) miteinbezogen. II. Um die Ausgestaltung medizinischer Entscheidungsprozesse aus Perspektive der orthopädischen Ärzte genauer zu verstehen, wurden teilstrukturierte Interviews (N=9) durchgeführt und mit der Methode des Process Codings (Saldaña, 2012) ausgewertet. Ergebnisse I. Bei 84,4% (n=356) der befragten Arthrosepatienten wurde im Arzt-Gespräch eine medizinische Entscheidung getroffen. Diese fiel bei ca. einem Drittel (33,4%, N=422) für eine Operation aus und bei einem weiteren Drittel (35,1%, N=422) für eine konservative Therapie. Mit der getroffenen Entscheidung waren ca. 80% der Patienten zufrieden, die restlichen 20% äußerten diverse Kritikpunkte. Das Ausmaß an Partizipation über alle Phasen der Entscheidung wurde mit dem PEF-FB-Summenscore erfasst und betrug durchschnittlich M=54,8 (N=356; 0=keine bis 100=maximale Partizipation) bei einer großen Streuung von SD=27,1. 88% der befragten Arthrosepatienten möchten gemeinsam mit dem Arzt oder allein entscheiden (15,5% möchten komplett oder hauptsächlich selbst entscheiden, 72,5% gemeinsam mit dem Arzt und 12,1% wünschen sich, dass hauptsächlich oder nur der Arzt entscheidet). Das Ausmaß an erfolgter Partizipation korrelierte signifikant (r=0,322; p<0,001) mit der Zufriedenheit mit der getroffenen Entscheidung. 94,7% der Arthrosepatienten, in deren Gespräch eine Entscheidung getroffen wurde, informierten sich im Vorfeld des Gesprächs über das Internet, 19,9% über Patientenbroschüren und 17,7% über Fachliteratur, 25% holten sich Rat von Angehörigen oder Bekannten, 1,1% in Selbsthilfegruppen und 9,3% nutzten noch andere Quellen. Das Ausmaß an Vorinformation nahm mit dem Alter signifikant zu (p=0,003). Ausführliche Vorinformation steht mit einer höheren wahrgenommenen Partizipation in Zusammenhang (p=0,04; N=356). In der Gesamtpopulation der befragten 422 Arthrosepatienten (M=57,7 Jahre) litten 36% an klinisch relevanten Ängsten und 27% an klinisch relevanten Depressionen (HADS-D). 43,1% der Patienten litten an Angst und/oder Depressionen (182 von 422). Bei den 141 Patienten, die vor einer Operationsentscheidung standen, litten deutlich mehr Patienten an Ängsten (42%), während die Zahl der depressiven Patienten nahezu gleich war (29%). 85% (N= 141) gab an, sich Sorgen um die Operation zu machen. Nur die Hälfte der Patienten (53,2%, N=141) seien von ihrem Arzt oder ihrer Ärztin auf mögliche Bedenken oder Ängste in Bezug auf die Operation angesprochen worden. Zweidrittel (63,1%, N=141) hätten sich gewünscht, dass dieser mehr auf Bedenken und Ängste eingeht. Arthrosepatienten, die vor einer Operation standen und klinisch relevante Ängste hatten (n=49, N=140), bewerteten das Arztgespräch signifikant weniger partizipativ (p≤0,05), als Patienten ohne klinisch relevante Ängste (n=81). Zwischen Depression und Partizipation konnte kein Zusammenhang gefunden werden (p=0,524). II. Die Auswertung der qualitativen Ärzteinterviews liefert diverse Erklärungsmöglichkeiten und Lösungsansätze für die, in der quantitativen Studie erhobene, große Diskrepanz zwischen dem ausgeprägten Partizipationswunsch der Arthrosepatienten und dem vergleichsweise geringen Einbezug. Bestimmte Rahmenbedingungen der orthopädischen Ambulanz erwiesen sich aus Ärzte- und Patientensicht problematisch, wie lange Wartezeiten, ständige Unterbrechungen (durch Funk, Studenten, Krankenschwester) und die wechselnden Ärzte. Problembereiche und Lösungsansätze zeigten sich beim Beziehungsaufbau zu Beginn des Gesprächs sowie beim Informationsaustausch zwischen Arzt und Patient. Die befragten Ärzte sprechen Patienten eine grundsätzliche (Mit)-Entscheidungsfähigkeit zu. Die ermöglichte Entscheidungsqualität aber auch die vom Arzt tatsächlich zugestandene Entscheidungsmöglichkeit wird jedoch von bestimmten Bedingungen abhängig gemacht, wie Bedingungen der gesundheitlichen Situation, der zur Verfügung stehenden Therapiemöglichkeiten, Bedingungen im Arzt (Vermittlungsfähigkeit- und -bereitschaft) und Bedingungen im Patienten (diverse Verständnisprobleme). Aus ärztlicher Sicht sind Partizipationswünsche und eigenständige Vorinformation von Patienten häufiger geworden, führen jedoch teils zu Problemen. Dabei zeigen sich unterschiedliche Strategien im Umgang damit. Eine vergleichende Analyse der verschiedenen Vorgehensweisen im Entscheidungsprozess zeigt eine Bandbreite an Grauschattierungen jenseits der schwarz-weißen Einordnung in arztzentrierte und patientenzentrierte Entscheidungen. Diskussion Arthrosepatienten stellen eine vielfältig vorinformierte Patientengruppe mit ausgeprägtem Partizipationswunsch dar. Beides wird teilweise von den betreuenden Orthopäden deutlich unterschätzt. Die geringe Entscheidungspartizipation durch die Ärzte scheint nicht nur ein Phänomen der Rahmenbedingungen der orthopädischen Ambulanz zu sein, sondern findet sich zum Teil auch in Einstellungen und Strategien der befragten Ärzte wieder. Jedoch zeigen sich hier auch Best Practice Ansätze, die die Umsetzbarkeit partizipativerer Vorgehensweisen in diesem Setting belegen und hilfreiche Ansatzpunkte für beispielsweise ein Ärztetraining bieten können. Dabei sollte die sehr hohe psychische Belastung der Arthrosepatienten, insbesondere bei bevorstehenden Operationen, mehr Berücksichtigung finden, z.B. auch durch den routinemäßigen Einsatz des HADS-D.