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Arzneimittelprüfung an nicht einwilligungsfähigen Erwachsenen: Ethische Aspekte und kritische Bewertung der neuen gesetzlichen Regelung durch medizinische Ethikkommissionen in Deutschland
Arzneimittelprüfung an nicht einwilligungsfähigen Erwachsenen: Ethische Aspekte und kritische Bewertung der neuen gesetzlichen Regelung durch medizinische Ethikkommissionen in Deutschland
2016 wurde in Deutschland das 4. AMG-ÄndG verabschiedet, dass auch Neuerungen der Forschung an nicht einwilligungsfähigen Volljährigen vorsieht. Nach seinem Inkrafttreten sollen erstmals auch ausschließlich gruppennützige Arzneimittelprüfungen, also Studienvorhaben ohne unmittelbares Nutzenpotenzial für den Versuchsteilnehmer selbst, unter Einhaltung strenger Sicherheitsvorkehrungen, wie etwa den Bedingungen des minimalen Risiko und der minimalen Belastung, zulässig sein. Die durch die in der gesetzlichen Neuregelung vorgesehenen Änderungen aufgeworfenen ethischen wie praktischen Herausforderungen werden in Öffentlichkeit und Fachwelt kontrovers diskutiert. Ziele unserer Studie waren (1) den Ist-Stand gruppennütziger Forschung an einwilligungsunfähigen Erwachsenen aus Sicht medizinischer EK in Deutschland zu erheben und (2) Schwierigkeiten, aber auch Möglichkeiten der praktischen Umsetzung der gesetzlichen Neuregelung zu ermitteln und somit den öffentlichen Diskurs weiter anzuregen. Wir führten hierzu eine semiquantitative anonyme Online-Fragebogenstudie unter 249 ausgewählten Mitglieder aller 52 medizinischen EK in Deutschland durch. Es handelte sich hierbei um Geschäftsführer, Vorsitzende, stellvertretende Vorsitzende, Juristen und Mitglieder aus dem Bereich Ethik, Philosophie und Theologie. Es konnten 84 Fragebögen ausgewertet werden, was einem Rücklauf von 34% entspricht. Es zeigte sich, dass die Differenzierung von beispielhaft genannten Forschungsvorhaben hinsichtlich ihrer Eigen-, Gruppen- und Fremdnutzenchance nicht einheitlich ausfiel. Ebenfalls heterogen interpretiert wurden Risiko und Belastung bestimmter Besipielinterventionen, weshalb von keinem einheiltichen Verständis der Sicherheitskriterien des minimalen Risikos und der minimale Belsatung ausgegangen werden kann. Die in der Neuregelung vorgesehene Probandenverfügung, welche eine im einwilligungsfähigen Zustand nach ärztlicher Aufklärung erteilte Vorabeinwilligung in ein noch nicht konkretisiertes Studienvorhaben darstellt, wurde von einer Mehrheit der Teilnehmer angesichts der anderen bereits geltenden Schutzkriterien für nicht erforderlich gehalten. Außerdem wurde ihre Praktikabilität in Frage gestellt, da hohe Anforderungen an das obligate ärztliche Aufklärungsgespräch gestellt werden. Es bestehen also trotz der neuen gesetzlichen Regelung nach wie vor wesentliche ethischen Unsicherheiten bezüglich gruppennütziger klinischer Prüfungen an nicht einwilligungsfähigen Erwachsenen. Ob, um diese Unsicherheiten auszuräumen, eine rechtliche Klarstellung, ergänzende Regulierungen, eine Evaluation der Neuregelung oder gar eine Revision des AMG erforderlich ist, bleibt zu diskutieren., In 2016 a revision of the German drug law, called the 4. AMG-ÄndG, has been passed, which among other things, includes regulatory changes regarding clinical drug trials on adults lacking decision-making capacity. After adoption, for the first time it will be possible to conduct trials with a merely indirect benefit on patients, if strict safety measures such as minimal risk, minimal burden, and consent of a legal guardian or representative are ensured. These changes have been discussed controversially by both the public and experts due to the introduced ethical and practical challenges. The primary objectives of our study were to determine (1) the current state of group beneficial research on adults without decision making capacity from the perspective of medical ethics committees, and (2) the challenges, but also opportunities, in the practical implementation of the new legal regulations to further stimulate the public discourse. For this purpose, we conducted a semiquantitative, anonymous online questionnaire among 249 members of all 52 human research ethics committees in Germany, among those directors, chairpersons, vice chairpersons, lawyers and other scientific members from the fields of ethics, philosophy and theology. In total 84 questionnaires could be evaluated, equaling a response rate of 34%. It is shown that the differentiation between exemplary research projects regarding their self-, group-, or third-party beneficial effect was not uniform among participants. Likewise, risk and burden of exemplary interventions was interpreted heterogeneously, therefore it is not reasonable to assume a common baseline in the understanding of safety criteria like minimal risk and minimal burden. Most participants judged the research advance directive introduced in the new regulation to be unnecessary considering the safety measures already in place. Practicability of the directive was questioned as well due to the strict requirements for anticipatory informed consent. In conclusion and despite the new legal regulations there still remain significant ethical uncertainties regarding group-beneficial research on adults without decision-making capacity. Whether a legal clarification, additional regulation, practical evaluation, or a complete revision of the law is needed to resolve these concerns remains to be discussed.
Forschungsethik, Medizinische Ethikkommissionen, Gruppennützige Forschung, Einwilligungsfähigkeit, Arzneimittelgesetz
Götz, Sophie-Charlotte Caroline
2022
Deutsch
Universitätsbibliothek der Ludwig-Maximilians-Universität München
Götz, Sophie-Charlotte Caroline (2022): Arzneimittelprüfung an nicht einwilligungsfähigen Erwachsenen: Ethische Aspekte und kritische Bewertung der neuen gesetzlichen Regelung durch medizinische Ethikkommissionen in Deutschland. Dissertation, LMU München: Medizinische Fakultät
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Abstract

2016 wurde in Deutschland das 4. AMG-ÄndG verabschiedet, dass auch Neuerungen der Forschung an nicht einwilligungsfähigen Volljährigen vorsieht. Nach seinem Inkrafttreten sollen erstmals auch ausschließlich gruppennützige Arzneimittelprüfungen, also Studienvorhaben ohne unmittelbares Nutzenpotenzial für den Versuchsteilnehmer selbst, unter Einhaltung strenger Sicherheitsvorkehrungen, wie etwa den Bedingungen des minimalen Risiko und der minimalen Belastung, zulässig sein. Die durch die in der gesetzlichen Neuregelung vorgesehenen Änderungen aufgeworfenen ethischen wie praktischen Herausforderungen werden in Öffentlichkeit und Fachwelt kontrovers diskutiert. Ziele unserer Studie waren (1) den Ist-Stand gruppennütziger Forschung an einwilligungsunfähigen Erwachsenen aus Sicht medizinischer EK in Deutschland zu erheben und (2) Schwierigkeiten, aber auch Möglichkeiten der praktischen Umsetzung der gesetzlichen Neuregelung zu ermitteln und somit den öffentlichen Diskurs weiter anzuregen. Wir führten hierzu eine semiquantitative anonyme Online-Fragebogenstudie unter 249 ausgewählten Mitglieder aller 52 medizinischen EK in Deutschland durch. Es handelte sich hierbei um Geschäftsführer, Vorsitzende, stellvertretende Vorsitzende, Juristen und Mitglieder aus dem Bereich Ethik, Philosophie und Theologie. Es konnten 84 Fragebögen ausgewertet werden, was einem Rücklauf von 34% entspricht. Es zeigte sich, dass die Differenzierung von beispielhaft genannten Forschungsvorhaben hinsichtlich ihrer Eigen-, Gruppen- und Fremdnutzenchance nicht einheitlich ausfiel. Ebenfalls heterogen interpretiert wurden Risiko und Belastung bestimmter Besipielinterventionen, weshalb von keinem einheiltichen Verständis der Sicherheitskriterien des minimalen Risikos und der minimale Belsatung ausgegangen werden kann. Die in der Neuregelung vorgesehene Probandenverfügung, welche eine im einwilligungsfähigen Zustand nach ärztlicher Aufklärung erteilte Vorabeinwilligung in ein noch nicht konkretisiertes Studienvorhaben darstellt, wurde von einer Mehrheit der Teilnehmer angesichts der anderen bereits geltenden Schutzkriterien für nicht erforderlich gehalten. Außerdem wurde ihre Praktikabilität in Frage gestellt, da hohe Anforderungen an das obligate ärztliche Aufklärungsgespräch gestellt werden. Es bestehen also trotz der neuen gesetzlichen Regelung nach wie vor wesentliche ethischen Unsicherheiten bezüglich gruppennütziger klinischer Prüfungen an nicht einwilligungsfähigen Erwachsenen. Ob, um diese Unsicherheiten auszuräumen, eine rechtliche Klarstellung, ergänzende Regulierungen, eine Evaluation der Neuregelung oder gar eine Revision des AMG erforderlich ist, bleibt zu diskutieren.

Abstract

In 2016 a revision of the German drug law, called the 4. AMG-ÄndG, has been passed, which among other things, includes regulatory changes regarding clinical drug trials on adults lacking decision-making capacity. After adoption, for the first time it will be possible to conduct trials with a merely indirect benefit on patients, if strict safety measures such as minimal risk, minimal burden, and consent of a legal guardian or representative are ensured. These changes have been discussed controversially by both the public and experts due to the introduced ethical and practical challenges. The primary objectives of our study were to determine (1) the current state of group beneficial research on adults without decision making capacity from the perspective of medical ethics committees, and (2) the challenges, but also opportunities, in the practical implementation of the new legal regulations to further stimulate the public discourse. For this purpose, we conducted a semiquantitative, anonymous online questionnaire among 249 members of all 52 human research ethics committees in Germany, among those directors, chairpersons, vice chairpersons, lawyers and other scientific members from the fields of ethics, philosophy and theology. In total 84 questionnaires could be evaluated, equaling a response rate of 34%. It is shown that the differentiation between exemplary research projects regarding their self-, group-, or third-party beneficial effect was not uniform among participants. Likewise, risk and burden of exemplary interventions was interpreted heterogeneously, therefore it is not reasonable to assume a common baseline in the understanding of safety criteria like minimal risk and minimal burden. Most participants judged the research advance directive introduced in the new regulation to be unnecessary considering the safety measures already in place. Practicability of the directive was questioned as well due to the strict requirements for anticipatory informed consent. In conclusion and despite the new legal regulations there still remain significant ethical uncertainties regarding group-beneficial research on adults without decision-making capacity. Whether a legal clarification, additional regulation, practical evaluation, or a complete revision of the law is needed to resolve these concerns remains to be discussed.