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Internal and external social dimensions of linguistic legacy materials. the case of Kraasna South Estonian
Internal and external social dimensions of linguistic legacy materials. the case of Kraasna South Estonian
Linguistische Nachlassmaterialien sind Artefakte der modernen Wissensgesellschaft, die Einblicke in die Sprach- und die Wissenschaftspraxis früherer Generationen geben. Für die Rekonstruktion ihrer Dokumentationskontexte fungieren sie oft als primäre Quellen, für Beteiligte durch ihre mnemonische Funktion oder in Ermangelung dieser als Zeitzeugnisse. Die vorliegende Arbeit beschäftigt sich mit der Dynamik des Wissensverlusts am Beispiel linguistischer Nachlassmaterialien, sowie der benötigten Rekonstruktion und Aufarbeitung im Umgang mit diesen Artefakten. Die Arbeit stellt hierzu einen hermeneutischen Beschreibungsrahmen vor, in dem der menschliche Faktor als soziale Dimension zwischen Wissen und Artefakt vermittelt. Dieses Modell unterscheidet zwischen einer internen und externen Referenzebene und den mental-abstrakten und materiellen Repräsentationen von Wissen. Die Kombination dieser Ebenen spannt vier Beschreibungsfelder auf, wobei der Transfer von Wissen zwischen diesen Bereichen durch menschliche Handlungen zu Erkenntnisgewinnen führt. Im Fallbeispiel der Nachlassmaterialien des südestnischen Kraasna-Dialekts liegen aus-schließlich Artefakte von drei größeren und zwei kleineren philologischen Dokumentations-projekten vor, die zwischen 1849 und 1968 entstanden sind. In diese Zeit fällt der Übergang von einer aktiven alltäglichen Sprachnutzung zum Vergessen des linguistischen Erbes der um die russische Stadt Krasnogorodsk (Oblast' Pskov) ansässigen Sprachgemeinschaft. Die Zielsetzung bei der Bearbeitung dieser Nachlassmaterialien war die Aufarbeitung dieser Materialien, die Beleuchtung der diversen gesellschaftlichen wie wissenschaftlichen Kontexte zu dieser Zeit, sowie die Untersuchung der Rezeptiongeschichte zum Kraasna-Dialekt und seinen Sprecher:innen. Im Zuge dieser Arbeit sind neue Einblicke in die Wissenschaftsgeschichte entstanden, insbesondere bei den wiederentdeckten Tonaufnahmen aus dem Jahr 1914, welche im Rahmen dieser Dissertation neu transkribiert und erstmalig analysiert wurden. Artikel II widmet sich der linguistischen Beschreibung der acht Phonographenwalzen, welche eine unschätzbare Quelle für die linguistische Beschreibung des Kraasna-Dialekts darstellen. Die Analyse bezieht dabei auch bereits veröffentlichte Beschreibungen ein und gelangt zu einer umfassenden Darstellung der Sprache, wobei sich verschiedene linguistische Annahmen bestätigen oder widerlegen lassen. Artikel I resümiert die notwendige philologische Rekonstruktion, um die diversen Nachlassmaterialien in ihren Kontexten der Erstellung und Rezeption zu begreifen. Hierbei ist eine reflexive Haltung vonnöten, die nicht nur Positionalität und menschlichen Einfluss in den Materialien untersucht, sondern auch die eigenen Spuren des Kurators transparent hält. Artikel III überträgt das Konzept der Kuratierung auf die wissenschaftliche Tätigkeit und Ausbildung. Diese Arbeit bedarf interdisziplinären Austauschs, einer holistischen geisteswissenschaftlichen Perspektive und vielseitigen Karrierewegen in der Aufarbeitung sprachlicher Daten und Dokumentationserzeugnisse. In Artikel IV stehen Archivinfrastrukturen im Fokus, die auf die Bedürfnisse von linguistischen Nachlassmaterialien und deren Aufarbeitung zugeschnitten sind. Die empfohlene partizipative Archivform kann die Gedächtnisinstitutionen zum Ort des Austauschs und der Verhandlung zwischen verschiedenen Interessengruppen erheben, bei der durch die Nachlassmaterialien auch eine historische Aussöhnung und ein Dialog zwischen Generationen ermöglicht wird. Die vorliegende Arbeit verknüpft die Thematik der Nachlassmaterialien mit wissenschaftstheoretischen und -geschichtlichen Ansätzen und stellt eine metawissenschaftliche Perspektive auf diese Artefakte der linguistischen und anthropologischen Forschungsarbeit dar. Für die estnische Dialektologie bietet die Arbeit eine umfassende Aufarbeitung der Forschungsgeschichte und der diversen Nachlassmaterialien, welche in den südestnischen Kontext eingeordnet werden. Darüber hinaus bietet die Fallstudie einen Referenzpunkt für die Reflexion und Theoriebildung im Bereich Sprachdokumentation bzw. Metadokumentation, sowie Anhaltspunkte für die linguistische Arbeit mit Nachlassmaterialien. Des Weiteren illustriert die Arbeit Ansätze und Entwicklungsmöglichkeiten für moderne partizipative Infrastrukturen in Wissens- und Gedächtnisorganisationen, die auf die Besonderheiten im Umgang mit Nachlassmaterialien ausgerichtet sind. Die Aufarbeitung und Kuratierung dieser Artefakte verdient größere Aufmerksamkeit und die gleiche Anerkennung wie andere Forschungsarbeiten, da sie einen wertvollen Beitrag zur vielfältigen Beschreibung und selbstreflektierten Wissenschaft bildet. Der Umgang mit Nachlassmaterialien stellt einen Diskurs dar, bei dem Wissen verhandelt und konstruiert wird. Im Hinblick auf diese soziale Konstruktion von Erkenntnissen von der Dokumentation über die Aufbereitung bis hin zu modernen Veröffentlichungen ist ein Fokus auf die sozialen Dimensionen wissenschaftlicher Artefakte und damit verbundenen Praktiken notwendig. Hierbei geht es nicht nur um einen kritischen und selbst-reflektierten Blick, sondern auch um Respekt und Anerkennung für die menschliche Arbeit in der Wissensgenese. Heutige Generationen können aus der Arbeit vergangener Gene-rationen lernen und auf dieselbe Weise nachfolgenden Wissenschaffenden aus Gesellschaft, Bildungswesen und Verwaltung helfen, ihre eigenen Perspektiven und Prozesse in der Dokumentation und Kommunikation von Wissen nahezubringen. Transparenz bildet ein verbindendes Element zwischen den Generationen und ermöglicht es, Kontexte zu rekonstruieren und Prozesse nachzuvollziehen.
legacy materials, curation, history of ideas, South Estonian, language data
Weber, Tobias
2023
Englisch
Universitätsbibliothek der Ludwig-Maximilians-Universität München
Weber, Tobias (2023): Internal and external social dimensions of linguistic legacy materials: the case of Kraasna South Estonian. Dissertation, LMU München: Fakultät für Sprach- und Literaturwissenschaften
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Abstract

Linguistische Nachlassmaterialien sind Artefakte der modernen Wissensgesellschaft, die Einblicke in die Sprach- und die Wissenschaftspraxis früherer Generationen geben. Für die Rekonstruktion ihrer Dokumentationskontexte fungieren sie oft als primäre Quellen, für Beteiligte durch ihre mnemonische Funktion oder in Ermangelung dieser als Zeitzeugnisse. Die vorliegende Arbeit beschäftigt sich mit der Dynamik des Wissensverlusts am Beispiel linguistischer Nachlassmaterialien, sowie der benötigten Rekonstruktion und Aufarbeitung im Umgang mit diesen Artefakten. Die Arbeit stellt hierzu einen hermeneutischen Beschreibungsrahmen vor, in dem der menschliche Faktor als soziale Dimension zwischen Wissen und Artefakt vermittelt. Dieses Modell unterscheidet zwischen einer internen und externen Referenzebene und den mental-abstrakten und materiellen Repräsentationen von Wissen. Die Kombination dieser Ebenen spannt vier Beschreibungsfelder auf, wobei der Transfer von Wissen zwischen diesen Bereichen durch menschliche Handlungen zu Erkenntnisgewinnen führt. Im Fallbeispiel der Nachlassmaterialien des südestnischen Kraasna-Dialekts liegen aus-schließlich Artefakte von drei größeren und zwei kleineren philologischen Dokumentations-projekten vor, die zwischen 1849 und 1968 entstanden sind. In diese Zeit fällt der Übergang von einer aktiven alltäglichen Sprachnutzung zum Vergessen des linguistischen Erbes der um die russische Stadt Krasnogorodsk (Oblast' Pskov) ansässigen Sprachgemeinschaft. Die Zielsetzung bei der Bearbeitung dieser Nachlassmaterialien war die Aufarbeitung dieser Materialien, die Beleuchtung der diversen gesellschaftlichen wie wissenschaftlichen Kontexte zu dieser Zeit, sowie die Untersuchung der Rezeptiongeschichte zum Kraasna-Dialekt und seinen Sprecher:innen. Im Zuge dieser Arbeit sind neue Einblicke in die Wissenschaftsgeschichte entstanden, insbesondere bei den wiederentdeckten Tonaufnahmen aus dem Jahr 1914, welche im Rahmen dieser Dissertation neu transkribiert und erstmalig analysiert wurden. Artikel II widmet sich der linguistischen Beschreibung der acht Phonographenwalzen, welche eine unschätzbare Quelle für die linguistische Beschreibung des Kraasna-Dialekts darstellen. Die Analyse bezieht dabei auch bereits veröffentlichte Beschreibungen ein und gelangt zu einer umfassenden Darstellung der Sprache, wobei sich verschiedene linguistische Annahmen bestätigen oder widerlegen lassen. Artikel I resümiert die notwendige philologische Rekonstruktion, um die diversen Nachlassmaterialien in ihren Kontexten der Erstellung und Rezeption zu begreifen. Hierbei ist eine reflexive Haltung vonnöten, die nicht nur Positionalität und menschlichen Einfluss in den Materialien untersucht, sondern auch die eigenen Spuren des Kurators transparent hält. Artikel III überträgt das Konzept der Kuratierung auf die wissenschaftliche Tätigkeit und Ausbildung. Diese Arbeit bedarf interdisziplinären Austauschs, einer holistischen geisteswissenschaftlichen Perspektive und vielseitigen Karrierewegen in der Aufarbeitung sprachlicher Daten und Dokumentationserzeugnisse. In Artikel IV stehen Archivinfrastrukturen im Fokus, die auf die Bedürfnisse von linguistischen Nachlassmaterialien und deren Aufarbeitung zugeschnitten sind. Die empfohlene partizipative Archivform kann die Gedächtnisinstitutionen zum Ort des Austauschs und der Verhandlung zwischen verschiedenen Interessengruppen erheben, bei der durch die Nachlassmaterialien auch eine historische Aussöhnung und ein Dialog zwischen Generationen ermöglicht wird. Die vorliegende Arbeit verknüpft die Thematik der Nachlassmaterialien mit wissenschaftstheoretischen und -geschichtlichen Ansätzen und stellt eine metawissenschaftliche Perspektive auf diese Artefakte der linguistischen und anthropologischen Forschungsarbeit dar. Für die estnische Dialektologie bietet die Arbeit eine umfassende Aufarbeitung der Forschungsgeschichte und der diversen Nachlassmaterialien, welche in den südestnischen Kontext eingeordnet werden. Darüber hinaus bietet die Fallstudie einen Referenzpunkt für die Reflexion und Theoriebildung im Bereich Sprachdokumentation bzw. Metadokumentation, sowie Anhaltspunkte für die linguistische Arbeit mit Nachlassmaterialien. Des Weiteren illustriert die Arbeit Ansätze und Entwicklungsmöglichkeiten für moderne partizipative Infrastrukturen in Wissens- und Gedächtnisorganisationen, die auf die Besonderheiten im Umgang mit Nachlassmaterialien ausgerichtet sind. Die Aufarbeitung und Kuratierung dieser Artefakte verdient größere Aufmerksamkeit und die gleiche Anerkennung wie andere Forschungsarbeiten, da sie einen wertvollen Beitrag zur vielfältigen Beschreibung und selbstreflektierten Wissenschaft bildet. Der Umgang mit Nachlassmaterialien stellt einen Diskurs dar, bei dem Wissen verhandelt und konstruiert wird. Im Hinblick auf diese soziale Konstruktion von Erkenntnissen von der Dokumentation über die Aufbereitung bis hin zu modernen Veröffentlichungen ist ein Fokus auf die sozialen Dimensionen wissenschaftlicher Artefakte und damit verbundenen Praktiken notwendig. Hierbei geht es nicht nur um einen kritischen und selbst-reflektierten Blick, sondern auch um Respekt und Anerkennung für die menschliche Arbeit in der Wissensgenese. Heutige Generationen können aus der Arbeit vergangener Gene-rationen lernen und auf dieselbe Weise nachfolgenden Wissenschaffenden aus Gesellschaft, Bildungswesen und Verwaltung helfen, ihre eigenen Perspektiven und Prozesse in der Dokumentation und Kommunikation von Wissen nahezubringen. Transparenz bildet ein verbindendes Element zwischen den Generationen und ermöglicht es, Kontexte zu rekonstruieren und Prozesse nachzuvollziehen.