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„Das mach ich immer so.“ Zur Rolle des alltagsbasierten Erfahrungswissens von Lehrerinnen und Lehrern bei unterrichtsmethodischen Entscheidungen
„Das mach ich immer so.“ Zur Rolle des alltagsbasierten Erfahrungswissens von Lehrerinnen und Lehrern bei unterrichtsmethodischen Entscheidungen
Mit den Forderungen nach einer evidenzorientierten Bildungspraxis sollte wissenschaftlichen Erkenntnissen bei unterrichtsmethodischen Entscheidungen eine wichtige Bedeutung zukommen. Es scheint aber, dass unterrichtsmethodische Entscheidungen von Lehrerinnen und Lehrern mehr von subjektivem Wissen und insbesondere von alltagsbasiertem Erfahrungswissen, welches durch episodische Erlebnisse geprägt sein kann, bestimmt werden, als durch forschungsorientiertes Wissen und Wissen über wissenschaftliche Theorien. Insbesondere über die Beschaffenheit des alltagsbasierten Erfahrungswissens von Lehrerinnen und Lehrern und seinem Verhältnis zu anderen Wissensbeständen im Kontext von unterrichtsmethodischen Entscheidungen ist bislang wenig bekannt. Daher wurde in der vorliegenden explorativen Interviewstudie untersucht, welche Typen von Wissensbeständen Lehrerinnen und Lehrer zur Begründung unterschiedlicher unterrichtsmethodischer Entscheidungen heranziehen und ob ihr alltagsbasiertes Erfahrungswissen tatsächlich auf erlebten Episoden beruht. Dazu wurden Lehrerinnen und Lehrer verschiedener Schularten und Fächer sowie mit unterschiedlicher Berufserfahrung im Anschluss an eine videografierte Unterrichtsstunde befragt. Als Stimuli für das Interview wurden mindestens drei Szenen aus der jeweiligen videografierten Unterrichtsstunde verwendet, die eine unterrichtsmethodische Entscheidung beinhalteten. Anhand eines strukturierten Interviewleitfadens wurden die Lehrerinnen und Lehrer nach einer Begründung für jede unterrichtsmethodische Entscheidung gefragt. Anhand eines Kodierschemas wurden die Typen von Wissensbeständen, die als Begründung für eine unterrichtsmethodische Entscheidung angeführt wurden sowie die dem alltagsbasierten Erfahrungswissen zu Grunde liegenden episodischen Einzelerlebnissen analysiert. Die deskriptiven Ergebnisse der qualitativen Inhaltsanalyse zeigen, dass Wissensbestände des Typs „Alltagsbasiertes Erfahrungswissen“ gleichauf mit Wissensbeständen zu „Subjektiven Theorien“ die dominierenden Wissenstypen waren, die von den befragten Lehrerinnen und Lehrern als Begründung für eine unterrichtsmethodische Entscheidung genannt wurden, während wissenschaftliche Wissensbestände deutlich seltener angeführt wurden. Die befragten Lehrerinnen und Lehrer scheinen demnach Schwierigkeiten zu haben, Wissen über wissenschaftliche Theorien oder empirische Befunde auf ihren Unterrichtsalltag anzuwenden. Spezifische Merkmale der zugrundeliegenden episodischen Erfahrungen, die die Authentizität dieser Erfahrungen bezeugen könnten, konnten nur in der Hälfte der hier vorliegenden Fälle von angeführten Wissensbeständen des Typs „Alltagsbasiertes Erfahrungswissen“ identifiziert werden. Zudem wurden die zur Begründung angeführten Wissensbestände im Zusammenhang mit der Art der unterrichtsmethodischen Entscheidungen, das heißt, ob diese spontan oder geplant waren, sowie mit dem Gegenstand der unterrichtsmethodischen Entscheidungen, das heißt, ob diese eher auf sicht- oder tiefenstruktureller Ebene getroffen wurden, analysiert. Schließlich wurden die zur Begründung angeführten Wissensbestände im Zusammenhang mit dem Format von Bezugsquellen (z. B. Bezugsquelle „Referendariat“) für Wissenstypen untersucht. Es zeigte sich bei den befragten Lehrerinnen und Lehrern, dass bei spontanen unterrichtsmethodischen Entscheidungen eher erfahrungsbasierte Wissensbestände und subjektive Theorien zur Begründung angeführt wurden. In Bezug auf den Gegenstand von unterrichtsmethodischen Entscheidungen zeigte sich, dass für unterrichtsmethodische Entscheidungen, die auf Tiefenstrukturebene die kognitive Aktivierung oder die instruktionale Unterstützung zum Ziel hatten, eher erfahrungsbasierte Wissensbestände zur Begründung von den befragten Lehrerinnen und Lehrern angeführt wurden. Für unterrichtsmethodische Entscheidungen, die auf die Sichtstrukturebene bezogen waren, wurden eher subjektive Theorien zur Begründung der Entscheidung herangezogen. Bemerkenswert ist zudem, dass sich das Selbstverständnis zur Professionalität im Lehrberuf bei den befragten Lehrerinnen und Lehrern scheinbar weitgehend auf subjektive Theorien und Überzeugungen bezieht, weniger auf erfahrungsbasierte Wissensbestände und selten auf wissenschaftliche Wissensbestände. Überraschend sind die Befunde hinsichtlich des Zusammenhangs von angeführten Wissenstypen und den Bezugsquellen der Wissenstypen. Hierzu kann mit den deskriptiven Ergebnissen der explorativen Interviewstudie gezeigt werden, dass im Zusammenhang mit der Bezugsquelle der zweiten Phase der Lehrerinnen- und Lehrerausbildung (Referendariat) mit Abstand am häufigsten keine Wissenstypen identifiziert werden konnten. Die Ergebnisse werden vor dem Hintergrund theoretischer Konzepte und empirischer Befunde zum Professionswissen von Lehrerinnen und Lehrern diskutiert. Dabei werden Wissensbestände des Typs „Alltagsbasiertes Erfahrungswissen“ insbesondere auch aus dem Blickwinkel der „Erfahrung aus zweiter Hand“ betrachtet und Erklärungen im Hinblick auf die Etablierung von Legitimationsroutinen auf der Grundlage von Autoritätenwissen entwickelt.
Erfahrungswissen von Lehrkräften, Evidenzbasierte Praxis, Professionswissen von Lehrkräften, Interviewstudie
Franke, Ulrike
2021
Deutsch
Universitätsbibliothek der Ludwig-Maximilians-Universität München
Franke, Ulrike (2021): „Das mach ich immer so.“ Zur Rolle des alltagsbasierten Erfahrungswissens von Lehrerinnen und Lehrern bei unterrichtsmethodischen Entscheidungen. Dissertation, LMU München: Fakultät für Psychologie und Pädagogik
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Abstract

Mit den Forderungen nach einer evidenzorientierten Bildungspraxis sollte wissenschaftlichen Erkenntnissen bei unterrichtsmethodischen Entscheidungen eine wichtige Bedeutung zukommen. Es scheint aber, dass unterrichtsmethodische Entscheidungen von Lehrerinnen und Lehrern mehr von subjektivem Wissen und insbesondere von alltagsbasiertem Erfahrungswissen, welches durch episodische Erlebnisse geprägt sein kann, bestimmt werden, als durch forschungsorientiertes Wissen und Wissen über wissenschaftliche Theorien. Insbesondere über die Beschaffenheit des alltagsbasierten Erfahrungswissens von Lehrerinnen und Lehrern und seinem Verhältnis zu anderen Wissensbeständen im Kontext von unterrichtsmethodischen Entscheidungen ist bislang wenig bekannt. Daher wurde in der vorliegenden explorativen Interviewstudie untersucht, welche Typen von Wissensbeständen Lehrerinnen und Lehrer zur Begründung unterschiedlicher unterrichtsmethodischer Entscheidungen heranziehen und ob ihr alltagsbasiertes Erfahrungswissen tatsächlich auf erlebten Episoden beruht. Dazu wurden Lehrerinnen und Lehrer verschiedener Schularten und Fächer sowie mit unterschiedlicher Berufserfahrung im Anschluss an eine videografierte Unterrichtsstunde befragt. Als Stimuli für das Interview wurden mindestens drei Szenen aus der jeweiligen videografierten Unterrichtsstunde verwendet, die eine unterrichtsmethodische Entscheidung beinhalteten. Anhand eines strukturierten Interviewleitfadens wurden die Lehrerinnen und Lehrer nach einer Begründung für jede unterrichtsmethodische Entscheidung gefragt. Anhand eines Kodierschemas wurden die Typen von Wissensbeständen, die als Begründung für eine unterrichtsmethodische Entscheidung angeführt wurden sowie die dem alltagsbasierten Erfahrungswissen zu Grunde liegenden episodischen Einzelerlebnissen analysiert. Die deskriptiven Ergebnisse der qualitativen Inhaltsanalyse zeigen, dass Wissensbestände des Typs „Alltagsbasiertes Erfahrungswissen“ gleichauf mit Wissensbeständen zu „Subjektiven Theorien“ die dominierenden Wissenstypen waren, die von den befragten Lehrerinnen und Lehrern als Begründung für eine unterrichtsmethodische Entscheidung genannt wurden, während wissenschaftliche Wissensbestände deutlich seltener angeführt wurden. Die befragten Lehrerinnen und Lehrer scheinen demnach Schwierigkeiten zu haben, Wissen über wissenschaftliche Theorien oder empirische Befunde auf ihren Unterrichtsalltag anzuwenden. Spezifische Merkmale der zugrundeliegenden episodischen Erfahrungen, die die Authentizität dieser Erfahrungen bezeugen könnten, konnten nur in der Hälfte der hier vorliegenden Fälle von angeführten Wissensbeständen des Typs „Alltagsbasiertes Erfahrungswissen“ identifiziert werden. Zudem wurden die zur Begründung angeführten Wissensbestände im Zusammenhang mit der Art der unterrichtsmethodischen Entscheidungen, das heißt, ob diese spontan oder geplant waren, sowie mit dem Gegenstand der unterrichtsmethodischen Entscheidungen, das heißt, ob diese eher auf sicht- oder tiefenstruktureller Ebene getroffen wurden, analysiert. Schließlich wurden die zur Begründung angeführten Wissensbestände im Zusammenhang mit dem Format von Bezugsquellen (z. B. Bezugsquelle „Referendariat“) für Wissenstypen untersucht. Es zeigte sich bei den befragten Lehrerinnen und Lehrern, dass bei spontanen unterrichtsmethodischen Entscheidungen eher erfahrungsbasierte Wissensbestände und subjektive Theorien zur Begründung angeführt wurden. In Bezug auf den Gegenstand von unterrichtsmethodischen Entscheidungen zeigte sich, dass für unterrichtsmethodische Entscheidungen, die auf Tiefenstrukturebene die kognitive Aktivierung oder die instruktionale Unterstützung zum Ziel hatten, eher erfahrungsbasierte Wissensbestände zur Begründung von den befragten Lehrerinnen und Lehrern angeführt wurden. Für unterrichtsmethodische Entscheidungen, die auf die Sichtstrukturebene bezogen waren, wurden eher subjektive Theorien zur Begründung der Entscheidung herangezogen. Bemerkenswert ist zudem, dass sich das Selbstverständnis zur Professionalität im Lehrberuf bei den befragten Lehrerinnen und Lehrern scheinbar weitgehend auf subjektive Theorien und Überzeugungen bezieht, weniger auf erfahrungsbasierte Wissensbestände und selten auf wissenschaftliche Wissensbestände. Überraschend sind die Befunde hinsichtlich des Zusammenhangs von angeführten Wissenstypen und den Bezugsquellen der Wissenstypen. Hierzu kann mit den deskriptiven Ergebnissen der explorativen Interviewstudie gezeigt werden, dass im Zusammenhang mit der Bezugsquelle der zweiten Phase der Lehrerinnen- und Lehrerausbildung (Referendariat) mit Abstand am häufigsten keine Wissenstypen identifiziert werden konnten. Die Ergebnisse werden vor dem Hintergrund theoretischer Konzepte und empirischer Befunde zum Professionswissen von Lehrerinnen und Lehrern diskutiert. Dabei werden Wissensbestände des Typs „Alltagsbasiertes Erfahrungswissen“ insbesondere auch aus dem Blickwinkel der „Erfahrung aus zweiter Hand“ betrachtet und Erklärungen im Hinblick auf die Etablierung von Legitimationsroutinen auf der Grundlage von Autoritätenwissen entwickelt.