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"Noodiagnostik". Analyse und Messung der Trotzmacht des Geistes als noetisches Konstrukt und Kompetenz zur Sinnverwirklichung
"Noodiagnostik". Analyse und Messung der Trotzmacht des Geistes als noetisches Konstrukt und Kompetenz zur Sinnverwirklichung
Die Logotherapie und Existenzanalyse hat sich wie keine andere psychotherapeutische Schule um die Thematisierung der Auseinandersetzung des Menschen mit dem Sinn seines Daseins verdient gemacht. Sie betrachtet die Suche nach dem – in jeder Situation enthaltenen – Sinn als primäre Motivation des Menschen und betont seine geistige Freiheit und Verantwortlichkeit. Die „Trotzmacht des Geistes“ als existenzielles Potenzial und personale Kompetenz zur individuellen Werte- und Sinnverwirklichung ist ein Schlüsselbegriff der klassischen Logotherapie und Existenzanalyse. Sie ist Forschungsgegenstand des theoretischen wie auch empirischen Teils dieser Arbeit: Auf Basis der Anthropologie und Sinntheorie Viktor E. Frankls wird der „Fragebogen zur Trotzmacht des Geistes (TdG)“ entwickelt. Der TdG ist ein noodynamisch sensibles, standardisiertes und ökonomisches Verfahren zur Selbsteinschätzung, welches sich reliabel erweist. Die Überprüfung der Dimensionalität erbrachte vier Faktoren: „Selbstgestaltung“, „Lebensgestaltung“, „Selbstbestimmung“ und „Lebensmut“. Der SINNDEX wird als Gesamtmaß für die Ausprägung der Trotzmacht des Geistes erhoben. Die hypothesenkonformen Ergebnisse der Validierungsstudien können als erste Hinweise auf die Korrektheit des nomologischen Netzwerkes der Trotzmacht gedeutet werden. Das bisher unerforschte noetische Konstrukt erweist sich als konzeptuell abgrenzbarer und psychometrisch erfassbarer Indikator für Sinnorientierung. Nahezu 40% von 321 mit dem TdG im Rahmen seiner Konstruktvalidierung getesteten Personen erleben nur wenig Sinnerfüllung, zugleich befinden sich lediglich 10% der Befragten in einer Sinnkrise. Frühere Befunde konnten bekräftigt werden, nach denen rund ein Drittel der Bevölkerung zur Gruppe der „existenziell Indifferenten“ gehört: Diese Menschen sehen keinen oder nur wenig Sinn in ihrem Leben, leiden jedoch keineswegs darunter. Durch den Entwurf und die empirische Bestätigung der Theorie der „erlernten Sinnlosigkeit“ kann das bisher wenig erforschte Phänomen der „existenziellen Indifferenz“ erklärt und damit ein wertvoller Beitrag zur psychologischen Sinnforschung geleistet werden: Menschen, die sowohl bezüglich Sinnerleben als auch Sinnkrise eine geringe Ausprägung zeigen, weisen auch ein geringes Ausmaß an Trotzmacht des Geistes auf. Sie betrachten sich als ohnmächtig gegenüber äußeren und inneren „Sinnbarrieren“ und übersehen ihre Freiheit, geistig jederzeit Stellung beziehen, sinnwidrigen Lebensumständen „trotzen“, sich selbst und ihr Leben gestalten und Sinn selbst verwirklichen zu können. Im Rahmen des Erklärungsmodells der „erlernten Sinnlosigkeit“ wird die Trotzmacht des Geistes als Moderatorvariable identifiziert, welche den Zusammenhang zwischen Sinnerfüllung und Sinnkrise beeinflusst: Personen mit gering ausgeprägter Trotzmacht nutzen ihre geistige Willenskraft nicht, dadurch bleibt individuelle Sinnerfahrung aus und wird auch als Möglichkeit bald nicht mehr wahrgenommen. Wo jedoch der Glaube an den potenziellen Sinn des eigenen Daseins verloren geht, wird Sinnerleben nicht vermisst – trotz geringer Sinnerfüllung tritt keine Sinnkrise auf. Gründe für die Mobilisierung der Trotzmacht werden nicht mehr erkannt, wodurch wiederum immer weniger Sinn realisiert wird – ein Circulus vitiosus entsteht. Er kann dazu führen, dass die Suche nach Sinn gänzlich eingestellt und Sinnlosigkeit generalisiert wird. Die vorliegende Arbeit macht auf die Bedeutsamkeit der Trotzmacht des Geistes für den einzelnen Menschen als auch die Gesellschaft aufmerksam und plädiert für eine systematische Förderung der Trotzmacht im Rahmen der Unterstützung individueller Sinnfindungsprozesse., Logotherapy and Existential Analysis has been addressing people’s concern with the meaning of their existence like no other psychotherapeutic approach. It considers the search for meaning – which is contained in every situation – as man’s primary motivation, and stresses the spiritual freedom and responsibility of the human being. The „Defiant Power of the Human Spirit”, a key term in classical Logotherapy and Existential Analysis, refers to the existential potential and personal ability of the individual to realize values and meaning in life. The term stands at the center of the theoretical as well as the empirical portions of this thesis: On the basis of Viktor E. Frankl’s anthropology and meaning theory, I have developed the “Fragebogen zur Trotzmacht des Geistes” (“Questionnaire on the Defiant Power of the Human Spirit”), or TdG for short. The TdG is a noodynamically sensitive, standardized and economic self-evaluation questionnaire which has shown to have high reliability. An examination of dimensionality revealed four factors: “Self-actualization”, “life-actualization”, “self-determination” and “courage to face life”. An index was developed (SINNDEX) to yield an overall measure for Defiant Power. The validity studies that were carried out confirm the stated hypothesis, and can be interpreted as first evidence for the correctness of the nomological network of the Defiant Power of the Human Spirit. The previously unexplored noetic construct thus proves to be both a conceptually clear and psychometrically measurable indicator of an individual’s orientation to life meaning. The construct validation reveals that almost 40% of the 321 persons who were tested with the TdG experience only little fulfillment of a meaningful life, at the same time merely 10% of the respondents are in a crisis of purpose. The presented data support previous findings that approximately one third of the population belongs to the group of “existential indifferent” persons: These people see no or only little meaning in their lives, but by no means suffer from that. By constructing and empirically confirming a theory of “learned meaninglessness”, it is possible to explain the hitherto little investigated phenomenon of “existential indifference” and thereby make a valuable contribution to psychological research concerning meaning in life: People who show a low degree of both meaning experience and crisis of purpose also score low on the developed measure for the Defiant Power of the Human Spirit. They regard themselves as powerless when confronted with external and internal “meaning barriers”, and overlook their freedom to spiritually take a position at any time, to “defy” living conditions which contradict meaning, to shape themselves and their lives and to actualize meaning on their own initiative. In the context of the explanatory model of “learned meaninglessness”, the Defiant Power of the Human Spirit is identified in this thesis as a moderator variable that influences the relationship between meaningfulness and crisis of purpose: Persons with low Defiant Power do not use their noetic willpower; accordingly, their experience of purpose in life not only fails to manifest, but is also soon no longer perceived as a possibility. However, where a belief in the potential meaning of one’s own existence is lost, the experience of a meaningful life is not longed after – in spite of low meaningfulness, no crisis of meaning occurs. Reasons for the mobilization of Defiant Power are no longer observable, and, as a result, meaning is actualized less and less – a vicious circle develops. In this way, the search for meaning may permanently cease, and the perception of meaninglessness becomes generalized. This paper draws the attention to the significance the Defiant Power of the Human Spirit has for the individual as well as for society, and calls for a systematic Defiant Power training in order to support the individual’s meaning-finding process.
Sinn im Leben / Purpose in Life, Meaning of Life; Logotherapie & Existenzanalyse / Logotherapy & Existential Analysis; Trotzmacht des Geistes / Defiant Power of the Human Spirit; Existenzielle Indifferenz / Existential Indifference; Erlernte Sinnlosigkeit / Learned Meaninglessness
Paul, Anja
2014
Deutsch
Universitätsbibliothek der Ludwig-Maximilians-Universität München
Paul, Anja (2014): "Noodiagnostik": Analyse und Messung der Trotzmacht des Geistes als noetisches Konstrukt und Kompetenz zur Sinnverwirklichung. Dissertation, LMU München: Fakultät für Psychologie und Pädagogik
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Abstract

Die Logotherapie und Existenzanalyse hat sich wie keine andere psychotherapeutische Schule um die Thematisierung der Auseinandersetzung des Menschen mit dem Sinn seines Daseins verdient gemacht. Sie betrachtet die Suche nach dem – in jeder Situation enthaltenen – Sinn als primäre Motivation des Menschen und betont seine geistige Freiheit und Verantwortlichkeit. Die „Trotzmacht des Geistes“ als existenzielles Potenzial und personale Kompetenz zur individuellen Werte- und Sinnverwirklichung ist ein Schlüsselbegriff der klassischen Logotherapie und Existenzanalyse. Sie ist Forschungsgegenstand des theoretischen wie auch empirischen Teils dieser Arbeit: Auf Basis der Anthropologie und Sinntheorie Viktor E. Frankls wird der „Fragebogen zur Trotzmacht des Geistes (TdG)“ entwickelt. Der TdG ist ein noodynamisch sensibles, standardisiertes und ökonomisches Verfahren zur Selbsteinschätzung, welches sich reliabel erweist. Die Überprüfung der Dimensionalität erbrachte vier Faktoren: „Selbstgestaltung“, „Lebensgestaltung“, „Selbstbestimmung“ und „Lebensmut“. Der SINNDEX wird als Gesamtmaß für die Ausprägung der Trotzmacht des Geistes erhoben. Die hypothesenkonformen Ergebnisse der Validierungsstudien können als erste Hinweise auf die Korrektheit des nomologischen Netzwerkes der Trotzmacht gedeutet werden. Das bisher unerforschte noetische Konstrukt erweist sich als konzeptuell abgrenzbarer und psychometrisch erfassbarer Indikator für Sinnorientierung. Nahezu 40% von 321 mit dem TdG im Rahmen seiner Konstruktvalidierung getesteten Personen erleben nur wenig Sinnerfüllung, zugleich befinden sich lediglich 10% der Befragten in einer Sinnkrise. Frühere Befunde konnten bekräftigt werden, nach denen rund ein Drittel der Bevölkerung zur Gruppe der „existenziell Indifferenten“ gehört: Diese Menschen sehen keinen oder nur wenig Sinn in ihrem Leben, leiden jedoch keineswegs darunter. Durch den Entwurf und die empirische Bestätigung der Theorie der „erlernten Sinnlosigkeit“ kann das bisher wenig erforschte Phänomen der „existenziellen Indifferenz“ erklärt und damit ein wertvoller Beitrag zur psychologischen Sinnforschung geleistet werden: Menschen, die sowohl bezüglich Sinnerleben als auch Sinnkrise eine geringe Ausprägung zeigen, weisen auch ein geringes Ausmaß an Trotzmacht des Geistes auf. Sie betrachten sich als ohnmächtig gegenüber äußeren und inneren „Sinnbarrieren“ und übersehen ihre Freiheit, geistig jederzeit Stellung beziehen, sinnwidrigen Lebensumständen „trotzen“, sich selbst und ihr Leben gestalten und Sinn selbst verwirklichen zu können. Im Rahmen des Erklärungsmodells der „erlernten Sinnlosigkeit“ wird die Trotzmacht des Geistes als Moderatorvariable identifiziert, welche den Zusammenhang zwischen Sinnerfüllung und Sinnkrise beeinflusst: Personen mit gering ausgeprägter Trotzmacht nutzen ihre geistige Willenskraft nicht, dadurch bleibt individuelle Sinnerfahrung aus und wird auch als Möglichkeit bald nicht mehr wahrgenommen. Wo jedoch der Glaube an den potenziellen Sinn des eigenen Daseins verloren geht, wird Sinnerleben nicht vermisst – trotz geringer Sinnerfüllung tritt keine Sinnkrise auf. Gründe für die Mobilisierung der Trotzmacht werden nicht mehr erkannt, wodurch wiederum immer weniger Sinn realisiert wird – ein Circulus vitiosus entsteht. Er kann dazu führen, dass die Suche nach Sinn gänzlich eingestellt und Sinnlosigkeit generalisiert wird. Die vorliegende Arbeit macht auf die Bedeutsamkeit der Trotzmacht des Geistes für den einzelnen Menschen als auch die Gesellschaft aufmerksam und plädiert für eine systematische Förderung der Trotzmacht im Rahmen der Unterstützung individueller Sinnfindungsprozesse.

Abstract

Logotherapy and Existential Analysis has been addressing people’s concern with the meaning of their existence like no other psychotherapeutic approach. It considers the search for meaning – which is contained in every situation – as man’s primary motivation, and stresses the spiritual freedom and responsibility of the human being. The „Defiant Power of the Human Spirit”, a key term in classical Logotherapy and Existential Analysis, refers to the existential potential and personal ability of the individual to realize values and meaning in life. The term stands at the center of the theoretical as well as the empirical portions of this thesis: On the basis of Viktor E. Frankl’s anthropology and meaning theory, I have developed the “Fragebogen zur Trotzmacht des Geistes” (“Questionnaire on the Defiant Power of the Human Spirit”), or TdG for short. The TdG is a noodynamically sensitive, standardized and economic self-evaluation questionnaire which has shown to have high reliability. An examination of dimensionality revealed four factors: “Self-actualization”, “life-actualization”, “self-determination” and “courage to face life”. An index was developed (SINNDEX) to yield an overall measure for Defiant Power. The validity studies that were carried out confirm the stated hypothesis, and can be interpreted as first evidence for the correctness of the nomological network of the Defiant Power of the Human Spirit. The previously unexplored noetic construct thus proves to be both a conceptually clear and psychometrically measurable indicator of an individual’s orientation to life meaning. The construct validation reveals that almost 40% of the 321 persons who were tested with the TdG experience only little fulfillment of a meaningful life, at the same time merely 10% of the respondents are in a crisis of purpose. The presented data support previous findings that approximately one third of the population belongs to the group of “existential indifferent” persons: These people see no or only little meaning in their lives, but by no means suffer from that. By constructing and empirically confirming a theory of “learned meaninglessness”, it is possible to explain the hitherto little investigated phenomenon of “existential indifference” and thereby make a valuable contribution to psychological research concerning meaning in life: People who show a low degree of both meaning experience and crisis of purpose also score low on the developed measure for the Defiant Power of the Human Spirit. They regard themselves as powerless when confronted with external and internal “meaning barriers”, and overlook their freedom to spiritually take a position at any time, to “defy” living conditions which contradict meaning, to shape themselves and their lives and to actualize meaning on their own initiative. In the context of the explanatory model of “learned meaninglessness”, the Defiant Power of the Human Spirit is identified in this thesis as a moderator variable that influences the relationship between meaningfulness and crisis of purpose: Persons with low Defiant Power do not use their noetic willpower; accordingly, their experience of purpose in life not only fails to manifest, but is also soon no longer perceived as a possibility. However, where a belief in the potential meaning of one’s own existence is lost, the experience of a meaningful life is not longed after – in spite of low meaningfulness, no crisis of meaning occurs. Reasons for the mobilization of Defiant Power are no longer observable, and, as a result, meaning is actualized less and less – a vicious circle develops. In this way, the search for meaning may permanently cease, and the perception of meaninglessness becomes generalized. This paper draws the attention to the significance the Defiant Power of the Human Spirit has for the individual as well as for society, and calls for a systematic Defiant Power training in order to support the individual’s meaning-finding process.